Debatte Armuts- und Reichtumsbericht: Dreifache Spaltung, einfach vertuscht

Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung beschönigt die Lage. Wahrer Reichtum wird darin verschleiert. Das Land ist tief gespalten.

Fünf Becher, mit denen Geld für Hund, Bier, Kiffen, Essen und Urlaub gesammelt wird

Irgendwie muss mensch seine Grundbedürfnisse ja stillen Foto: dpa

Gut Ding will Weile haben, heißt es. In diesem Falle wohl zu Unrecht: Wegen eines monatelangen Streits zwischen dem Sozialministerium unter Leitung von Andrea Nahles (SPD) und dem CDU-geführten Kanzleramt hat das Bundeskabinett den Fünften Armuts- und Reichtumsbericht zur Hängepartie werden lassen. Selbst eine so banale Erkenntnis wie die, dass zumindest sehr Reiche politisch einflussreicher als Arme sind, sorgte für Konfliktstoff zwischen den Regierungsparteien.

Wie ihre schwarz-gelbe Vorgängerregierung schafft es die Große Koalition aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten nicht, das Dokument über die Lebenslagen in Deutschland fristgerecht vorzulegen. Dies soll nach einem Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2001 nämlich immer zur Mitte einer Legislaturperiode geschehen. Da sich die laufende Legislaturperiode bereits dem Ende zuneigt, wird der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht somit im Unterschied zu seinen Vorläufern zum Wahlkampfthema.

Wer als Leser erfahren möchte, ob sich die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland während des Berichtszeitraums vertieft hat, wo die Gründe hierfür liegen und was dagegen zu tun ist, wird enttäuscht. Nach den gesellschaftlichen, sozioökonomischen und politischen Ursachen der Einkommens- und Vermögensspreizung im Land wird in dem Bericht nämlich gar nicht gefragt, genauso fehlen auch Empfehlungen zu deren Beseitigung.

Gegenstand der Betrachtung sind allein die individuellen Auslöser persönlicher Notlagen wie zum Beispiel Erwerbslosigkeit, Trennung oder Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität, wohingegen die strukturellen Ursachen für soziale Auf- und Abstiege weitgehend im Dunkeln ­bleiben.

Wahrer Reichtum wird verschleiert

Entgegen früheren Absichtsbekundungen von Andrea Nahles ist der Reichtum ein Stiefkind der statistischen Datenerfassung und -analyse geblieben. Die Ministerin hat zwar ein Forschungsprojekt zu Reichtum in Auftrag gegeben, diesen aber so diffus definieren lassen, dass die soziale Ungleichheit während des Berichtszeitraums kaum zugenommen hat.

„Einkommensreich“ ist demnach, wer über mehr als das Doppelte beziehungsweise das Dreifache des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens der Gesamtbevölkerung verfügt – das sind 3.452 beziehungsweise 5.178 Euro pro Monat.

Nach den politischen Ursachen der Einkommensspreizung wird gar nicht erst gefragt

Solche aussagekräftigen Zahlen­angaben kommen im Regierungsbericht hingegen nicht vor: Die reichsten Geschwister unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, haben im Mai 2016 für das Vorjahr allein 994,7 Millionen Euro an Dividenden aus ihren BMW-Aktien bezogen.

Wegen seiner hervorragenden Ertragslage zahlt ihnen der Münchner Automobilkonzern in ein paar Wochen eine Rekorddividende von über 1 Milliarde Euro. Konzernerben wie Quandt und Klatten würden sich halb totlachen, wenn man ihnen mitteilte, dass die Bundesregierung einen alleinstehenden Studienrat wegen seines Gehalts für reich erklärt. So wird der wahre Reichtum, der sich immer stärker bei wenigen Unternehmerfamilien konzentriert, verschleiert und relativiert.

Armut droht sich zu verfestigen

Trotz aller Beschönigungs-, Beschwichtigungs- und Entschuldigungsversuche lässt der vorgelegte Bericht eine dreifache Spaltung erkennen: Erstens wachsen Armut und Reichtum gleichermaßen, sind also zwei Seiten derselben Medaille. Dies zeigt sich besonders deutlich an dem Vermögen, das sich zunehmend bei wenigen Hyperreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen.

Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung fast 52 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf 1 Prozent. Über 40 Millionen Menschen leben also praktisch von der Hand in den Mund. Anders formuliert: Sie sind nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.

Zweitens geht der wachsende private Reichtum mit öffentlicher Verarmung sowie Mängeln der öffentlichen Daseinsvorsorge oder der sozialen und Bildungsinfrastruktur einher, worunter die Armen wiederum am meisten leiden. Drittens findet auch eine so­zialräumliche Spaltung des Landes statt. Je nachdem, wo die Menschen wohnen, unterscheiden sich ihre Lebensverhältnisse und Chancen, auskömmlich zu leben.

Mancherorts gehören Menschen, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, heute zum „normalen“ Stadtbild. Wer ohne ideologische Scheuklappen durch unsere Straßen geht und genau hinschaut, kommt zu einem anderen Ergebnis als der Regierungsbericht: Allmählich dringt die Armut zur Mitte der Gesellschaft vor und droht sich zu verfestigen.

Angst der Mittelschicht

Die in den Ballungsgebieten und Boomtowns der Bundesrepublik drastisch steigenden Mieten und Energiepreise beeinträchtigen sogar den Lebensstandard von Normalverdienern und verstärken die Angst vieler Mittelschichtangehöriger vor dem so­zia­len Abstieg. Die soziale Ungleichheit wächst in erschreckendem Maße, ohne von den Regierungsparteien als Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung wahrgenommen zu ­werden.

Vielmehr nutzt die Bundesregierung solche Berichte, um dem (Wahl-)Volk ihre Politik als Erfolgsgeschichte zu „verkaufen“, statt die sozialen Probleme ehrlich aufzulisten. Ohnehin fehlt es weniger an statistischen Daten als an politischen Taten. Resümierend lässt sich feststellen, dass CDU, CSU und SPD im Hinblick auf die Armuts- und Reichtumsberichterstattung versagt und kein Konzept zur Bekämpfung der Armut haben.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die soziale Gerechtigkeit als Wahlkampfschlager entdeckt hat. Denn die Verwirklichung seiner bisherigen Vorschläge würde zwar einzelne Auswüchse der „Agenda 2010“ beseitigen.

Hartz IV als deren Kern wäre jedoch nur ganz am Rande betroffen, nämlich bei der Höhe des Schonvermögens. Von dessen geplanter Verdopplung auf 300 Euro pro Lebensjahr würden die allermeisten Bezieher des Arbeitslosengeldes II nicht profitieren, weil sie überhaupt kein Vermögen besitzen.

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