Wohnsitzauflage für Geflüchtete: Aufs Dorf gezwungen
Gewerkschaften, Künstler, Wissenschaftler protestieren wie Niedersachsens Grüne gegen die Zwangszuweisung von Geflüchteten. SPD-Regierungschef Weil hält dagegen.
HANNOVER taz | Niedersachsens rot-grüne Regierungskoalition steuert auf einen Streit über eine Wohnsitzauflage für Flüchtlinge zu. „Im Grundsatz positiv“ findet SPD-Ministerpräsident Stephan Weil die Möglichkeit, auch anerkannten Asylbewerbern ihren Wohnort staatlich vorzuschreiben: „Bei einer zu großen Konzentration in einigen wenigen Ballungsräumen kann es zu Problemen kommen, zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt“, sagte der Regierungschef der Hannoverschen Allgemeinen Zeitungzur Begründung.
Viele Grüne lehnen die Zwangszuweisung von Flüchtlingen dagegen als integrationsfeindlich ab: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir eine Wohnsitzauflage rechtskonform und sinnvoll umsetzen sollen“, sagt die Sprecherin für Flüchtlings- und Migrationspolitik der grünen Landtagsfraktion, Filiz Polat, zur taz.
Länder dürfen bestimmen
Die Auflage ist Teil des neuen Integrationsgesetzes, das die schwarz-rote Bundesregierung am Mittwoch beschlossen hat. Vorgesehen ist nicht nur, dass Flüchtlinge mindestens drei Jahre nach ihrer Anerkennung in dem Bundesland leben müssen, in dem ihr Asylverfahren abgeschlossen wurde – die Länder sollen ihnen in dieser Zeit auch diktieren dürfen, wo genau sie wohnen müssen. Ausgenommen sind MigrantInnen, die einen Job gefunden haben, in dem sie mindestens 15 Stunden pro Woche arbeiten und mit über 712 Euro deutlich mehr verdienen als den Mindestlohn.
„Fördern und Fordern“: Das Motto der umstrittenen Hartz-Gesetze ist auch das Leitmotiv des neuen Integrationsgesetzes.
Erleichtert werden soll vor allem die Arbeitssuche: Die sogenannte „Vorrangprüfung“, die Asylsuchende von Jobs ausschließt, wenn sich Bewerber mit deutschem oder EU-Pass finden, fällt zunächst für drei Jahre weg.
Wer eine Lehre beginnt, darf dazu in Deutschland bleiben – und danach weitere sechs Monate für die Jobsuche.
100.000 Ein-Euro-Jobs will der Bund außerdem für Flüchtlinge schaffen – in einfachen Tätigkeiten, etwa bei der Reinigung von Parks.
„Sanktionen“ drohen allen, die diese Jobs ablehnen – also die Kürzung von Sozialleistungen.
„Sanktioniert“ werden soll auch die Weigerung, an den künftig verpflichtenden Integrationskursen teilzunehmen.
Viel zu wenig Plätze gebe es aktuell in Sprach- und Integrationskursen, kritisieren dagegen Flüchtlingsorganisationen. Auch die Arbeitsvermittlung funktioniere nur mangelhaft.
Unterstützung für die kritische Haltung der Grünen kommt vom niedersächsischen Flüchtlingsrat: „Beim Aufbau einer eigenen Existenz werden Schutzsuchende damit gezielt benachteiligt“, sagt dessen Geschäftsführer Kai Weber. „Das bestimmte Gebiete verlassen werden, hat mit mangelnden Chancen gerade auf dem Arbeitsmarkt zu tun.“ Ähnlich argumentiert auch die Hilfsorganisation Pro Asyl: Die Initiative der Bundesregierung sei nichts anderes als ein „Desintegrationsgesetz“.
Kritik von vielen Seiten
Kritik kommt auch von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechtsorganisationen und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). „Viel wichtiger wäre es, im Ausland erworbene Berufsabschlüsse schnell und unkompliziert anzuerkennen, um so den Zugang zu Arbeit zu erleichtern“, kritisiert etwa der stellvertretende Vorsitzende des DGB Nord, Ingo Schlüter.
Zuvor hatten auch Künstler, Autoren und Wissenschaftler wie Berlinale-Chef Dieter Kosslick und der Philosoph Harald Welzer das Gesetz als einen „Rückschritt in die 1980er-Jahre“ bezeichnet. Das Vorhaben sei „getragen von Misstrauen und vorauseilenden Vorverurteilungen“ und spiele so Rechtspopulisten in die Hände.
Einige Menschen bleiben außen vor
„Das Gesetz sieht die Schaffung von 100.000 Ein-Euro-Jobs vor“, sagt dazu auch Flüchtlingsrats-Geschäftsführer Weber. „Asylsuchende werden damit pauschal abgewertet – dabei hat die Arbeitsverwaltung gerade einmal bei jedem Fünften erfasst, welche berufliche Qualifikation überhaupt vorliegt.“ Nötig seien Sprachkurse und Fortbildungen für alle Schutzsuchenden. Weber kritisiert auch, dass nur Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Eritrea und dem Iran in den Genuss von Integrationskursen kommen. Menschen aus Afghanistan dagegen bleiben außen vor. „Dabei geht es allein um das politische Signal: Wir wollen euch nicht.“
Immerhin: Auch bei Niedersachsens Ministerpräsident Weil, der schon im Januar in der taz für die Wohnsitzauflage geworben hatte, wachsen angesichts der massiven Kritik die Bedenken: „Offen“ sei derzeit, „ob und wann“ die Zwangszuweisung in Niedersachsen umgesetzt werde, sagt der Regierungschef: „Wir würden eine solche Auflage sicher nur mit Augenmaß und bei besonderem Bedarf einsetzen.“
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