Nachruf auf Hans-Jochen Tschiche: Der Unerschrockene
Er war federführend in der DDR-Opposition und fädelte später die erste PDS-geduldete Koalition ein. Bis zuletzt mischte sich Tschiche ein.
„Herr Tschiche, was sollen wir denn jetzt machen? Helfen Sie uns!“ flehte der SED-Fürst des Bezirkes Magdeburg im Wendeherbst 1989. Und was antwortete Hans-Jochen Tschiche, Leiter der evangelischen Akademie in Magdeburg und DDR-weit einer der wichtigsten Köpfe der Opposition? „Wir wollen Ihr Handeln kritisch begleiten!“ Tschiche flötete immer besonders friedfertig und bieder, wenn er diese Antwort später zum Besten gab - und donnerte anschließend über so viel Blödheit.
Da präsentieren die abgewirtschafteten Eliten die Macht auf dem Tablett und die Opposition greift nicht zu. Die Bürgerrechtler blieben Türöffner, zu den Schaltstellen sind dann andere marschiert, reichlich CDU-Blockflöten, Westimporte und namenlose Wendefiguren, etwa eine gewisse Angela Merkel.
„Runder-Tisch-Komplex“ nannte Tschiche diese Naivität und konnte später herzhaft lachen. Zur Macht hat er dann 1994 gegriffen. Tschiche, seit 1990 Fraktionsvorsitzender von Bündnis90/Grüne im Magdeburger Landtag, fädelte 1994 mit Reinhard Höppner das „Magdeburger Modell“ ein. Eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen unter Tolerierung der SED-Nachfolgerin PDS. Vier Jahre nach dem Wendeherbst war das für viele, insbesondere für viele Bürgerrechtler, eine Zumutung. Erstmals hatte die PDS wieder einen Fuß in der Tür.
Der Preis für die erste Regierungsbeteiligung der Grünen in Sachsen-Anhalt - und die zweite und vorerst letzte in einem ostdeutschen Bundesland - war Tschiche nicht zu hoch. Zumindest einem Teil der PDS-Genossen gestand er zu, dass sie sich gewandelt haben. Da legte er sich auch mit den Bürgerrechtlern an.
Überall federführend
„Wir waren doch schon mit dem Runden-Tisch-Komplex geboren“, witzelte er. Dass man einmal selbst eine Regierung stellen könnte, schien vor dem Herbst 1989 so abwegig, dass man so etwas nur zu später Stunde und als absurdes Theater durchspielen konnte. So geschehen im Sommer 1989 in Tschiches Pfarrhaus in den Nähe von Magdeburg. Da war Tschiche, Jahrgang 1929, schon längst einer der führenden Köpfe der DDR-Opposition. Die Proteste gegen den Einmarsch der Sowjets 1968 in die Tschechoslowakei und 1976 gegen die Biermann-Ausbürgerung, die Friedensbewegung, das „Neue Forum“ - überall war Tschiche federführend mit dabei.
Dass so einer die DDR überhaupt schadlos überstehen konnte, wirkt in der Rückschau wie ein Wunder. Ein Heer an Stasi-Spitzeln, regelrechte Verfolgungsjagden auf der Straße, die Familie in Sippenhaftung, systematische Verleumdung und der permanente Druck von der Kirchenleitung, die Tschiche gern in das hinterletzte Kaff versetzt hätte - andere wären zerbrochen. Und Tschiche? Die Fotos von Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, der Theologin Dorothee Sölle und Robert Jungk, einer der Vorreiter der Umwelt- und Friedensbewegung, hingen hinter Glas vereint in seinem Arbeitszimmer.
Unerschrockenheit, ein fast schon antiquiertes Wort, wäre passend, Luther darin nicht unähnlich. „Ein ungepflegter Grauhaariger mit dicker Brille las Texte“ notierte einmal ein Spitzel und hatte durchaus gut beobachtet.
Trittbrettfahrer Gauck
Tschiche, der Bäckerssohn aus der Dübener Heide, lachte über das Kleinbürgertum der DDR, das sich bis heute erhalten hat. „Der Osten ist einfach deutscher und antiwestlicher“, lautete seine Analyse. Weggegangen ist er trotzdem nicht. Er wurde einer der profiliertesten Grünen im Osten Deutschlands und einer der brillantesten Parlamentsredner. Das „Magdeburger Modell“ brachte den Grünen dennoch kein Glück. 1998 flogen sie aus dem Landtag. Die SPD ließ sich bis 2002 weiter von der PDS tolerieren, ohne Juniorpartner.
Tschiche mischte in Sachsen-Anhalt weiter mit, wurde Vorsitzender des Vereins „Miteinander“, der Programme gegen Rechtsextremismus organisiert und meldete sich 2012 zu Wort, als Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Ein Trittbrettfahrer sei Gauck, der „ohne Skrupel“ auf dem Ticket des Bürgerrechtlers durchs Land reise, dabei sei Gauck als Teil der konservativen westlichen Gesellschaft „die falsche Person“.
Als sich 2012 zwei ehemalige Sexualstraftäter in dem Dorf Insel in der Altmark niederließen und es über Monate Proteste der Dorfbewohner gab, die kräftig von Rechten befeuert wurden, war es Tschiche, der im Hintergrund versuchte, die Wogen zu glätten. Die beiden Männer fanden bei Tschiche, dem ollen Pfarrer, Rückhalt. „Für die bin ich so etwas wie ein Vater geworden“, resümierte Tschiche im März 2013, lachte und ging vors Haus, um noch eine zu rauchen. Am Donnerstag ist Hans-Jochen Tschiche im Alter von 85 Jahren in Magdeburg gestorben.
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