Soundtrack von Horrorklassiker: Auf der Affektebene ist die Hölle los
Wayne Bell und Regisseur Tobe Hooper komponierten den noisig-kratzigen Soundtrack von „Texas Chainsaw Massacre“. Waxwork hat diesen neu veröffentlicht.
In den Sechzigerjahren nahm der US-Horrorfilm Anlauf und machte einen großen Sprung: Von den fantastischen Monstern der klassischen Phase im Jahrzehnt zuvor, die durch gleichfalls fantastische Welten marodierten, hin zu einem grimmig-realistischen Gestus, der in den Siebzigerjahren dann mit einer massiven Gewaltinfusion einherging.
Der bis dahin im Genre ungekannte Fatalismus, die Exzesse, das Misstrauen gegenüber allem, was einst als gut und schön oder wenigstens als notwendig galt (die Jugend, Autoritäten, Happy Ends), wurden musikalisch oftmals von einem Höllenlärm begleitet: Atonalität, Avantgarde und Krach anstatt der bisherigen, nicht weiter auffälligen Streicherpartituren.
Der Filmkomponist Bernard Herrmann hatte mit den fiesen Violinen in Alfred Hitchcocks „Psycho“ bereits vorgearbeitet, Der deutsche Elektronik-Pionier Oskar Sala vertonte 1963 dann Hitchcocks „Die Vögel“ mit seinem elektroakustischen Trautonium. „Der Exorzist“ integrierte als vielleicht erster Horrorfilm Kompositionen von Komponisten aus dem Gefilde der zeitgenössischen E-Musik.
Zermürbender Exzess
Den nervenzehrendsten Soundtrack des Genres, und das zeitenübergreifend, kann man in „The Texas Chainsaw Massacre“ hören, Tobe Hoopers zermürbenden Exzess von 1974. Die Bilder korrespondieren mit den Klangbildern. Auf der Leinwand zerlegt eine Hinterwäldlerfamilie, die bis vor Kurzem im örtlichen Schlachthof angestellt war, junge Hippies mit Kettensäge und Fleischerhammer.
OST „Tobe Hooper & Wayne Bell: The Texas Chain Saw Massacre“ (Waxwork/H’Art)
Wesentlich mehr passiert, auf der Plotebene zumindest, nicht. Auf der Affektebene aber ist die Hölle los. In den letzten zehn Minuten von „The Texas Chainsaw Massacre“ wird mehr geschrien als in allen anderen Produktionen des Jahres 1974 zusammengenommen.
Vollends ins Delirium getrieben wird dieser komplett freidrehende Film von einer wüsten Kaskade aus Kratzen und Schlägen, atonalen Noiseflächen und allerlei Stressgeräuschen. Soundtrack-Komponist Wayne Bell und Regisseur Tobe Hooper dengelten vermutlich ähnlich stoned wie beim übrigen Dreh auf allerlei Becken, Aluminiumkochtöpfen und Kinderschlagwerkzeuge, sampelten Tierlaute und malträtierten Pfeifen und Rasseln.
Verschollen geglaubtes Mastertape
Das US-Indielabel Waxwork hat den Soundtrack zu „The Texas Chainsaw Massacre“ nun wiederveröffentlicht, ausgehend von dem verschollen geglaubten Mastertape, das erst 2023 wiederentdeckt wurde. Zu hören ist etwas, das zuerst einmal die Frage aufwirft, was und vor allem warum man sich das gerade anhört, die sich nach und nach erschließt.
Es ist wie gesagt eine eher intuitiv komponierte und gespielte Filmmusik, die verschiedene Klang- und Geräuscharten eher montiert und zusammenschneidet, die mit den Bildern in ihrer Suggestion von Überhitzung und Wahnhaftigkeit korrespondiert, aber auch ohne sie prächtig funktioniert, als eine Art Knochenmusik.
Also als in Teilen wohl tatsächlich mit Knochen gespielte Musik. Was man über sie auch noch sagen kann: Sie klingt radikal unvertraut. Und auch das korrespondiert mit dem Filmgeschehen und intensiviert es. Welt und Klang sind aus den Fugen.
Blutrotes Vinyl
Die Wirkung ist groß, auch auf natürlich blutrotem Vinyl. Der Horrorfilmhistoriker Frank Hentschel diagnostizierte in seinem Standardwerk „Töne der Angst“ für die Musik in „The Texas Chainsaw Massacre“ eine „Grundstimmung von Kälte, Gefahr und Fremdheit“ und beschrieb den Eindruck, der sich mit ihr verbindet, schön plastisch: „Bedrohung überall“.
Was natürlich die Frage wieder aufwirft, warum man sich das überhaupt anhören sollte. Letzten Endes fügt sich dieser Frontalangriff auf den Hörapparat schlicht in das große Versprechen des Horrorgenres ein: Man erlebt eigentlich Unaushaltbares in einem geschützten Raum, ohne anders als imaginär involviert zu sein, man macht eine ästhetische Erfahrung, die einen als reale Erfahrung überfordern oder schlicht kaputtmachen würde.
Im Falle der Kettensägen-Massaker-Musik ist es die ästhetische Erfahrung einer tiefgreifenden Destruktivität.
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