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zwischen den rillenNeue Wörter für die Pantoffeltierchen

Locas in Love: „Kalender“ (Staatsakt/Caroline International)

„Es gibt kein richtiges Leben im bürgerlichen“, singt Stephanie Schrank auf „Kalender“, dem Titelsong des aktuellen Albums ihrer Band Locas in Love. Irgendwie stellt sie damit direkt klar: Ihre Band macht weiter. Neun Alben in 14 Jahren, zahlreiche Spitzenplätze in Jahresbestenlisten der Fachpresse, euphorische Rezensionen und viel Lob für ihre klugen – aber, das muss man so sagen, auch verschwurbelten Texte sowie die eingängigen Pop-Melodien. Den großen kommerziellen Erfolg hatte die Band aus Köln nie, sie blieb das uneingelöste Versprechen des deutschsprachigen Indiepop, der sympathische Geheimtipp. Auch ihr etwas leichter zugänglicheres Seitenprojekt Karpatenhund schlug nicht ein.

Andere Bands hätten längst aufgegeben, sich auf Karrieren oder Familiengründungen konzentriert. Aber Locas in Love machen 2015 zu ihrem kreativsten Jahr: Im Frühling kam ihr Doppelalbum „Use your Illusion 3 & 4“, jüngst erschien „Kalender“. „Popmusik ist die beste Arena, um Gefühlen wie Liebe oder Schmerz Ausdruck zu verleihen“, erklärt Gitarrist Björn Sonnenberg, fügt aber schnell hinzu: „Aber Pop ist mehr als nur vertonte Tagebücher!“

Dem als Titel frech bei Guns N’ Roses abzitierten Doppelalbum „Use your Illusion 3 & 4“ lagen bunte Dino-Figuren bei, das Video zur Single „Da ist ein Licht“ bebilderte, wie Locas-Manager Benny die Band durch Muppet-artige Handpuppen ersetzt. Ähnliche Detailliebe bei „Kalender“. Das neue Album enthält einen solchen und ein 16-seitiges Essay („Aufsatz über das Wesen und das Messen der Zeit, Kalender, Popsongs und meine Band Locas in Love“). „Wir suchten eine Form, die gesamtheitlicher ist, mehr als ‚nur‘ Musik, sondern einen größeren Ausschnitt aus unserem Universum zeigt.“ Der beiliegende Kalender präsentiert Zeichnungen von Stephanie Schrank, die auch sonst für das Artwork zuständig ist. „Das ist nicht nur eine Dreingabe zur Musik, sondern funktioniert auch für sich allein“, sagt Björn Sonnenberg.

So sind die zwölf Songs auf „Kalender“ keine Vertonung der Monatsmotive aus dem beigefügten Kalender. Sie stehen auch nicht für die einzelnen Monate. Der Bezug liegt in ihrer künstlerischen Vision von Musik und Kunst. Auftaktsong des Albums ist „All meine Großeltern“, eine ruhiger Anfang, eine Art Standortbestimmung auf einer persönlichen Zeitachse: Großeltern sterben, Läden schließen, Gebäude werden abgerissen. Zeit vergeht, Dinge verändern sich, der Einzelne steht machtlos daneben. „Manchmal fühlt man sich wie Pantoffeltierchen in einem riesigen Experiment“, sagt Björn Sonnenberg. „Ich kann beeinflussen, wie meine Haare oder Kleider aussehen, aber sonst sehr vieles nicht.“

Mit „Alphabet“ und „Ultraweiß“ enthält das Album geradezu typische Locas-Songs: Stromlinienförmiger Gitarrenpop, schnörkellose Gesangs­linien, Reim und Versmaß werden dabei flexibel gehandhabt. „Ich brauche neue Wörter“, singt Björn Sonnenberg in „Alphabet“. Schrank ergänzt: „Um Bedeutungen herzustellen“. Sonnenberg raunt warm und tief ins Mikrophon, als kauere er im Lautsprecher ganz dicht an der Membran und damit ganz dicht am Herz der Hörer. Dass ein Lied wie „Ruinen“ als Liebesschmonzette gänzlich unpeinlich ­funktioniert („Und wenn wir wieder auseinandergehen / kannst du mich nicht einfach mitnehmen“), liegt auch an Sonnenbergs unprätentiösem Gesang.

In Songs wie „Oh!“ und „Ich bin eine Insel“ entdecken Locas in Love elektronische Sounds für sich, erweitern ihre Aktionsfläche. Als Rocksongs wirkten diese Songs „geheimnislos agitatorisch und platt“, erklärt Björn Sonnenberg, erst in diesem erweiterten Sound habe es zu swingen begonnen, und die Parolen ambivalenter, vielschichtiger, interessanter werden lassen.

Locas in Love wollen etwas mitteilen, sie wollen geehrt werden. In der Musik, im beigefügten Essay, auf ihren Konzerten. „Popmusik ist für uns Ausgangspunkt für alles Mögliche“, ist da zu lesen. „Man kann zu einem Song drei Minuten tanzen oder 16 Seiten drüber schreiben.“ Dem ist nicht viel hinzuzufügen, außer vielleicht: In meiner persönlichen Best-of-Liste 2015 stehen Locas in Love ganz oben. Mal wieder.Malte Göbel

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