zurückgeblickt: Millionen Sachzwänge statt zehn Gebote
20 Jahre Integration in Kitas
Bis vor kurzem war Philip Saathoff noch ein Wickelkind, das nicht reden konnte. Doch der Sechsjährige mit dem Down-Syndrom hat viel von den anderen Jungen und Mädchen im evangelischen Kindergarten in Bremen-Habenhausen gelernt. „Eine wahnsinnige Entwicklung“, staunt seine Erzieherin.
Vor 20 Jahren begannen in Bremen die bundesweit ersten evangelischen Kindergärten, behinderte Kinder wie Philip aufzunehmen. Die anderen Kinder in der Kita der St-Johannes Gemeinde hätten Philip beim Lernen geholfen, niemand habe ihn ausgelacht, sagt seine Mutter Martina Saathoff: „Für alle ist das was ganz Normales, dass Philip mit dabei ist.“
Unter der wissenschaftlichen Begleitung des Bremer Behindertenpädagogen Georg Feuser startete 1982 die integrative Erziehung in der Hansestadt. Damals ging es mit zwei Fachkräften und sechs Kindern los. Heute kümmern sich 160 Mitarbeiter in 78 evangelischen Kindergärten, Spielkreisen und Horten um die speziellen Förderbedürfnisse von fast 450 Kindern.
Feusers Ansatz, nach dem jedes von ihnen ohne Aussonderung in seinem Stadtteil gemäß seinen individuellen Voraussetzungen optimal gefördert werden soll, gilt auch heute noch. Bislang arbeiteten Fachleute wie Krankengymnastinnen und Logopäden in den Gruppen mit. Allerdings wird das aufgrund der Sparzwänge bald anders: Die Stadt kürzt die Förderstunden drastisch. Die Experten sollen künftig nur noch beraten, wähend die Erzieherinnen fortgebildet werden und dann verstärkt selbst fördern sollen. Die Therapie selbst sollen in Zukunft die Krankenkassen finanzieren, sagt die Sozialbehörde. Nach einem Dreistufenmodell, das die Pflegesätze festlegt.
„Früher hatten wir die Zehn Gebote, heute haben wir eine Million Sachzwänge“, schimpft Ruhestands-Pastor Wulf-Traugott Kruse, der vor zwei Jahrzehnten in der Bremer Bonhoeffer-Gemeinde mit der integrativen Erziehung begann. Für den Mann der ersten Stunde war immer das christliche Menschenbild das Maß aller Dinge, nach dem es „bei Gott keine zweite Garnitur“ gibt.
Inzwischen sind die Förderstunden der Behindertenpädagogen in den Gruppen bereits von früher sechs auf nun 1,3 wöchentlich geschrumpft. Zwei Drittel der Mitarbeiterschaft im integrativen Bereich sollen in den kommenden Jahren „sozial verträglich abgebaut“ werden.
Bremen hat damit seine Vorreiterrolle in der Integration längst verloren. Die inhaltlichen Grundlagen der Integration seien gefährdet, kritisiert Feuser. Das System werde zur „Badewanne mit 20 Löchern und einem Stöpsel“, sagt auch der leitende Sprachheilpädagoge im Landesverband evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder, Ulrich Holste.
Doch bis heute haben die evangelischen Kindergärten in Bremen Jungen und Mädchen ungeachtet ihrer Behinderung aufgenommen. „Wir haben die reine Lehre durchgehalten“, ist die Leiterin des Landesverbandes, Ilse Wehrmann, überzeugt. Philip hat davon profitiert. Er wechselt demnächst in die Grundschule. Ganz normal. Und den Kindern in Habenhausen wird sein fröhliches „Guten-Morgen“ fehlen.
Dieter Sell (epd)
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