wir lassen lesen: Herberger den Hitlergruß verweigert
Otto Siffling: Aal im Schlammloch
Früher ging der Blick hier auf die qualmenden Schlote der Papierfabrik Aschaffenburg, die den Waldhof umzingelten. Früher kickte hier nicht nur der SV Waldhof, sondern auch die „Viktoria“ gegen die „Ramelia“. Die hatte es gut, denn sie verfügte über ein eigenes Spielfeld an der Altrheinstraße in Waldhof-West, das längst zur Kultstätte geworden ist. Alle 14 Tage trat hier auch die Mannschaft SV Harmonia Waldhof um Punkte in einer Sonderstaffel an. „Schlammloch“ nennen sie im Volksmund die düster anmutende Anlage, die der im benachbarten Ortsteil Luzenberg residierenden „Spiegelfabrik“ gehört.
Der Mannheimer Fußballhistoriker Karl-Heinz Schwarz-Pich, der sich mit Vorliebe vor allem dem Fußball im Faschismus widmet, kennt diese Gegend genau. Und das wird in jedem Satz seines Buches über den Waldhöfer Fußballer Otto Siffling deutlich.
In jener „Spiegel“, die eigentlich schon lange VEGLA (Vereinigte Glaswerke) heißt, liegen die Wurzeln des Stadtteils Waldhof und seines begnadeten Fußballers Otto Siffling, der hier 1912 geboren wurde und 1939 an Tuberkulose starb. Als die Spiegelfirma nach Mannheim kam, kamen auch viele Arbeiter mit ihren Familien hierher. Sie bekamen kleine Häuschen direkt vor dem Werk, in denen sie mietfrei wohnen durften. Die Straßen benannten sie so, als sei man in Lyon oder Toulouse. Der Rest der Arbeiter kam aus dem nahen Kraichgau wie auch Sifflings Großvater, der mit seiner Frau in der Rue de Montherme 212 in unmittelbarer Nähe zu den Eltern Seppl Herbergers lebte.
Otto Siffling trat meist im Spiegelwäldchen gegen den Ball, wenn er dort zu Besuch war. Auf diesem Terrain musste er den Ball ganz eng am Fuß führen, weil er außer seinen Gegenspielern auch noch die Bäume zu überlisten hatte. Und wenn die Buben aus der „Spiegel“ dann gegen die vom „Alten Waldhof“ spielten, schwammen sie erst mal durch den Altrhein und trafen sich sportlich fair auf dem neutrale Gelände der Friesenheimer Insel. „Dort kennt ihr heit noch en Fußabdruck vum Ottl im Sand sehe!“, sagen die alten Kämpen bis heute. Sie wissen aber auch, dass Siffling „ein schwieriger Charakter“ war.
Anfang der 30er-Jahre war Siffling wie so viele andere auch arbeitslos. 75 Prozent der Mannschaft des SV Waldhof hatten keinen Job. „Die haben trainiert wie Profis, aber gelebt wie die Bettler“, sagt Walter Spagerer, Doyen des SVW und früherer SPD-Landtagsabgeordneter, der in der Erinnerung ins Schwärmen gerät: „Siffling wand sich wie ein Aal an seinen Gegenspielern vorbei.“ Bald ging es für den so Gelobten wieder aufwärts, und er eröffnete in der City einen Tabakladen. Ein „respektloser Prolet“ blieb er dennoch. Als Reichstrainer Herberger bei einem Lehrgang nach dem Unterschied zwischen Profi und Amateur fragte, brach es aus Siffling heraus: „Ei, Herr Herberger, dess müsse Sie doch am beste wisse!“ Auch Hitlers Geburtstag war ihm schnuppe. Wieder musste Herberger einstecken: „Lecken Sie mich am Arsch mit Ihrem Hitlergruß!“
Das alles sind Originalzitate, die Autor Schwarz-Pich bei Zeitzeugen sammelte. Es wurde höchste Zeit, dass dieses spannende Buch geschrieben wurde, denn die Befragten sind alle schon um die 80 Jahre alt.
Am 21. September 1930 machte der damals 18-Jährige sein erstes Spiel für den SV Waldhof. Vier Jahre später gehörte Siffling zur Nationalmannschaft, die bei der WM in Italien den 3. Platz belegte. Sein berühmtester Auftritt war in der „Breslau-Elf“, als er beim 8:0 gegen die Dänen fünf Tore erzielte. Aber darauf bildete er sich nichts ein: „Bei so vielen wunderbaren Vorlagen musste ich ja ein paar Bälle ins Tor stolpern.“ Die internationale Karriere Sifflings endete im April 1938 gegen Portugal. Mit 17 Toren in 31 Spielen war seine Bilanz imponierend.
Aber die Kräfte des Spielers schwanden. „Der Ottl hotts mit der Lung, der hott die Schwindsucht!“, verbreitete sich die Kunde von der tödlichen Erkrankung. Doch Siffling starb nicht schnell, ihm „konnte man beim Sterben beinahe zusehen“, erinnert sich ein alter Bewunderer. Von Dezember 1938 bis Februar 1939 musste er ganz aussetzen. „Der spielte fast nur noch aus dem Stand“, konnte auch der ehemalige Bundes-Radtrainer Karl Ziegler den Verfall des Fußballers verfolgen. Weggefährte Franz Rathgeber ist heute noch ratlos: „Der ist doch nicht zum Arzt!“ Trotz eingefallener Wangen und einem gelb-grünlichen Gesicht und obwohl er unaufhörlich zitterte und hustete, blieb Siffling stur. Er starb mit 27 Jahren einen qualvollen Tod und wurde in der Ausgehuniform der Olympiateilnehmer von Berlin 1936 aufgebahrt. Die Mütze hatte man ihm wegen des erbärmlichen Anblicks ganz tief in die Stirn gedrückt.
GÜNTER ROHRBACHER-LIST
Karl-Heinz Schwarz-Pich: „Otto Siffling – Der SV Waldhof und die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Dritten Reich“. AGON-Verlag Kassel, 125 Seiten, 24,80 DM
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