warum ich trinke, wann immer ich Zeit habe: Durst oder Hirnschwellung
Früher war das Trinken noch nicht so beliebt wie heute. Da sagten unsere Eltern noch zu uns: „Trink nicht so viel!“ Es war Konsens, dass das Trinken dem Kinde schadet. Insbesondere vor dem Essen sollten wir nicht trinken, damit wir noch genug Platz im Magen hätten, für das Essen. Das Essen war den Leuten früher sehr wichtig, viel wichtiger als das Trinken. „Ihr könnt doch nicht schon wieder Durst haben?“, sagte unsere Mutter, denn nur wenn wir echten Durst verspürten, durften wir reinen Gewissens trinken. Deshalb hatte auch kein Kind in meiner Kinderzeit eine Wasserflasche im Ranzen, aber ein jedes hatte Wurstbrote dabei. Wasser trank man allenfalls in der Toilette mit dem Mund aus dem Wasserhahn.
Heute haben sich die Dinge umgekehrt. Eltern fürchten für ihr Kind das Zuwenigtrinken und fragen also: „Hast du auch genug getrunken?“ Sie stecken ihrem Kind immer eine Wasserflasche ein und kontrollieren nach der Schule, ob die ausgetrunken ist. Natürlich kann ein Kind die Flasche einfach auskippen, so wie wir früher die Brote mit der groben Leberwurst weggeschmissen haben. Ich glaube, viele Kinder kippen die Wasserflasche aus, um zuhause den Vorwürfen zu entgehen, denn das Wasser, das einen Sommertag lang in der Wasserflasche wartet, schmeckt, sagen wir mal: nicht so gut.
„Wenn du Durst hast, ist es schon zu spät“, sagte mir mal jemand Gesundheitsbewusstes. Ich solle trinken, rund um die Uhr, und auf gar keinen Fall zulassen, dass ich Durst bekäme. Das steht auch so in den Magazinen und Ratgebern. Ich weiß nicht, ob es noch mal eine Wende geben wird in meinem Leben, ob das jetzt der ultimative Wissensstand in Sachen Trinken ist, die allerletzte Weisheit, denn eine solche Wissenswende habe ich ja schon mitgemacht. Ich bemühe mich jedenfalls immer, irgendwie zu trinken, wenn ich Zeit habe.
Am Wochenende habe ich ein Seminar gegeben, da hatte ich sehr viel Zeit zum Trinken. Es standen so kleine Flaschen Apfelschorle und Sprudelwasser herum und die trank ich nacheinander leer. Einfach so. Weil sie da waren. Was soll ich sagen? Ich musste im Laufe des Vormittags vier Mal auf die Toilette. Und das ist schon mal eines der Probleme, die ich mit dem Trinken habe: Ich fühle mich die meiste Zeit unter Druck. Ich kann mich nicht konzentrieren, obwohl ich mich ja besser konzentrieren können soll, angeblich, aber ich frage mich andauernd, ob es denn sein kann, dass ich schon wieder die Toilette aufsuchen muss. Deshalb vermeide ich das Trinken auch unterwegs. Es gibt so wenige öffentliche Toiletten, und es ist so unangenehm, in Restaurants, in denen man nicht einkehrt, um eine Toilettenbenutzung zu bitten.
Wie viel soll ich nun trinken? Einen Liter Wasser pro 25 Kilo Körpergewicht sagen die einen, anderthalb bis zwei Liter pro Mensch und Tag die anderen, und die Extremen meinen, wenigstens drei Liter, besser vier, und dann lese ich, wer zu viel trinkt, verdünnt seine Blutsalze und stirbt dann möglicherweise an einer Hirnschwellung. Daran muss man vielleicht auch mal denken, wenn man mit sportlichem Ehrgeiz Wasser in sich reinschüttet.
Warum sollen wir so viel trinken? Wegen der Schadstoffe, zum Beispiel: Wir leben in einer gefährlichen, vergifteten Welt. Wir atmen Schadstoffe, wir essen Schadstoffe, wir tragen sie an unserem Körper. Mit dem Wasser sollen sie ausgeschwemmt werden, was übrigens nicht ganz bewiesen ist. Wir sollen also aus Angst so viel Wasser trinken – aus Angst sollten wir übrigens auch auf das Trinken von Alkohol verzichten. Alkohol trinken ist nämlich das Gegenteil von Wasser trinken. Für Alkohol müsste eigentlich ein ganz anderes Wort als Trinken verwendet werden.
Und dann sollen wir durch das Trinken auch noch schöner werden. Unsere Haut soll schöner werden. Unsere Füße dünner. Und wir sollen besser abnehmen. Wer will das nicht, besser abnehmen? Sogar unser Gehirn soll besser arbeiten. Deshalb sollen wir zum Beispiel bei einer Examensarbeit ordentlich trinken. Ich möchte nur noch mal darauf hinweisen, dass bei einer Examensarbeit das Trinken auch dazu führen kann, dass man Zeit auf der Toilette verbringt. Man muss das vielleicht abwägen, wie alles im Leben. Essen oder Trinken, Wasser oder Hirnschwellung, Schnaps oder reine Haut. Katrin Seddig
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