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wahlen in schwedenElchtest für die Sozis

Die schwedischen Sozialdemokraten haben einen historischen Absturz hingelegt. Die Ursachen liegen weniger in der Migrations- als in der Sozialpolitik

Gunnar Hinck

Journalist und Politikwissenschaftler, hat in den 90er Jahren in Schweden studiert. Damals fiel ihm auf, dass in jeder Fußgängerzone ein großes Parteihaus der Sozialdemokraten stand. Die Häuser sind geblieben, aber bei einer Reise diesen Sommer durch Schweden sprach er mit verunsicherten, ratlosen Sozialdemo-krat*innen.

In der Wahlnacht konnte man im schwedischen Staatsfernsehen einen Akt des subversiven Widerstands beobachten: Stundenlang schaltete der Sender SVT nicht zur sozialdemokratischen Wahlparty, stattdessen sendete er meist von den überschaubaren Partys der kleinen Parteien. Offenbar hatte der Sender die Nase voll von den Durchhalteparolen angesichts der Wahlniederlage. Man freue sich, dass man besser abgeschnitten habe als in den Umfragen prognostiziert, hatten die sozialdemokratischen Funktionäre in die Mikrofone gesprochen. Was man eben so sagt, wenn man schlechte Ergebnisse schönreden muss.

Am Sonntag haben die rechtspopulistischen Schwedendemokraten 17,6 Prozent der Stimmen geholt, während die jahrzehntelang dominierenden Sozialdemokraten auf historisch niedrige 28,4 Prozent abgerutscht sind. „Historisch“ ist wörtlich gemeint: Es ist das schlechteste Ergebnis seit 1911 (!), dem Jahr, in dem im Land freie Wahlen eingeführt wurden. Die Partei, die Schweden mit ihrem „Volksheim“ geprägt hat wie keine andere, liegt am Boden.

Medien und Meinungsmacher im In- und Ausland hatten den vermeintlichen Grund für den Rechtsruck bereits vor der Wahl ausgemacht: Schuld sei die zu liberale Einwanderungspolitik; die Grenze des Zumutbaren sei erreicht. In der Tat nahm Schweden 2015 im Verhältnis zur Einwohnerzahl ähnlich viele Flüchtlinge auf wie Deutschland.

Aber stimmt die These? Schweden hat eine jahrzehntelange Tradition der Migration. Nach einer Zeit der Arbeitsmigranten aus Südeuropa nahm das Land ab den achtziger Jahren Zehntausende Libanesen, Eritreer, Somalier, Syrer und Bosnier auf, ohne dass es zu einem nennenswerten Protest von rechts kam. Allein Mitte der neunziger Jahre kamen 100.000 Flüchtlinge ins Land. Sogenannte Problemviertel, in die vor der Wahl die Reporter ausschwärmten, beschränken sich im großflächigen Land auf einzelne Stadtteile in Stockholm, Göteborg und Malmö. Eine umfangreiche Langzeitstudie der Universität Göteborg stellt weiterhin eher positive Einstellungen zur Migration fest; einzig die ablehnende Haltung der Einwanderungsgegner hat sich verstärkt.

Die Einwanderung konnte nur deswegen so stark von den Rechtspopulisten zum dominierenden, polarisierenden Thema gemacht wurden, weil sich in den Jahren zuvor tiefer liegende Brüche im Land abgezeichnet haben, die in dem konsensverliebten Land nie offen verhandelt wurden. Die Einwanderungsfrage ist nur der Anlass, nicht die Ursache für die Rechtsverschiebung.

Die schwedische Gesellschaft beruhte auf einer Art Vertrag zwischen BürgerInnen und Staat: Du zahlst relativ hohe Steuern, dafür bekommst du über Umverteilung eine relativ gleiche Gesellschaft, ein hervorragendes Bildungssystem und ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem, das allen zugänglich ist. Dazu gab es eine konsequente Geschlechtergleichstellungspolitik obendrauf. Dieser Vertrag wurde in den 90er Jahren vonseiten der Politik gebrochen, und die „Sossen“, wie die Sozialdemokraten im Land genannt werden, waren vorne dabei. Seit über 25 Jahren macht der Wohlfahrtsstaat eine Transformation durch, die in Westeuropa ihresgleichen sucht. Die Einkommensungleichheit im Land steigt rasant, wie die OECD feststellt. Im Gesundheitssystem sind Mangel und lange Wartezeiten für Operationen seit Jahren ein Problem. Wer das nötige Geld hat, kauft sich private Leistungen. Gewinnorientierte Privatschulen sind inzwischen erlaubt, was die soziale Auslese verstärkt, denn Privatschulen siedeln sich vorzugsweise in „besseren“ Vierteln an.

In Schweden gibt es eine verpflichtende private Rentenversicherung mit einem besonderen Haken: Jeder Arbeitnehmer muss zwischen verschiedenen privaten Pensionsfonds wählen. Wer ein glücklicheres Anlegerhändchen hat, bekommt eine höhere Rente als der Rest. Heute ist Schweden hinter der netten Fassade eine harte Wettbewerbsgesellschaft, in der Lebensrisiken immer mehr auf das Individuum verlagert worden sind. Eine Gesellschaft im Dauerstress, den der Chef der Schwedendemokraten, Jimmie Åkesson, geschickt in Wählerstimmen ummünzte. Wenn er im Wahlkampf meinte, die Sozialdemokraten hätten das Volksheim zerstört, traf er damit einen empfindlichen Punkt.

Die Sozialdemokraten sind nicht allein für den Abbau des Wohlfahrtsstaats verantwortlich, aber sie haben ihn mitgetragen, auch wenn sie einmal in der Opposition waren. Sie sind somit in die gleiche neoliberale Falle getappt wie die Sozialdemokraten in Deutschland oder Großbritannien. Über Jahrzehnte gehörten zwei Elemente bei den schwedischen Sozialdemokraten zusammen: einerseits klassische Brot-und-Butter-Sozialpolitik für die Arbeiter- und die Mittelschicht, andererseits eine pluralistische Gesellschaftspolitik, zu der eine offensive Frauen-und Minderheitenpolitik gehören. Heute fehlt die Balance zwischen beiden Elementen, mit der die Sozialdemokraten einst breite Wählerschichten ansprachen.

Der schwedische Staat ist seinen BürgerInnen als Bündnispartner abhanden­gekommen, er hat sie verraten

Vor zehn Jahren sorgte das Buch „Ist der Schwede ein Mensch?“ im Land für Aufsehen. Die überraschende These der Historiker Henrik Berg­gren und Lars Trägårdh: Der Schwede ist von Grund auf Individualist, er hasst es, von jemandem abhängig zu sein. Der Staat ist für ihn der Bündnispartner, um diesen Individualismus zu erreichen. Die Leistungen des Wohlfahrtsstaats, die jedem voraussetzungslos zustehen, helfen ihm oder ihr, sich von der Abhängigkeit der Herkunft oder der Familie zu befreien.

Auf die Gegenwart übertragen, ist der schwedische Staat seinen Bürgern als Bündnispartner abhandengekommen, er hat sie verraten. Wenn die einst stärkste sozialdemokratische Partei der Welt, die immer einen Schritt visionärer, schlauer und machtbewusster war als andere, solche Fehler begeht wie in der Vergangenheit, ist es um die Sozialdemokratie wirklich katastrophal bestellt.

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