vorlesungskritikÄsthetik des Mannschaftssports: Gumbrechts reine Thesen
Wohin sich unsere Welt entwickelt, so hallt das Grußwort durchs Atrium des FAZ-Hauses an der Friedrichstraße, das sei die Frage, mit der sich Professor Hans Ulrich Gumbrecht besonders beschäftige. Das Verhältnis der Gesellschaft zum Sport sei dabei für den Literaturwissenschaftler, Soziologen und Philosophen aus Stanford/USA der Schlüssel zum Verständnis, präzisiert der im legeren Sportsakko aufgelaufene Laudator.
„Sport ist Kunst“ steht heute Abend an der Tabellenspitze von Gumbrechts Thesen, deren Brisanz wohl die Veranstalter bewogen hat, neben ihm noch Ex-Basketballer Henning Harnisch und Gunter Gebauer vom Institut für Philosophie der Freien Universität aufs Podium zu laden. „Sport“, beginnt der Experte aus Übersee, „ist nicht etwa die Allegorie für irgendetwas, zum Beispiel Kapitalismus.“ Auch nicht Psycho-Kompensation für Loser. Nein, die Schönheit des Sportereignisses ist für Gumbrecht „Primärfaszination“ Nummer eins. Ob Stadiontribüne oder Gemäldegalerie – der Zuschauer suche in beiden Fällen ausschließlich den ästhetischen Genuss. Und wie bei einem Kunstwerk fälle man nach dem Konsumieren des sportiven Events ein im Einzelnen nicht begründbares Geschmacksurteil.
Gumbrechts zweite These: Was man am Sport liebt, ist der „schöne Spielzug als Produktion einer Form“, etwa eine berühmte Torszene des WM-Endspiels 1958 Brasilien gegen Schweden. Und eine Epiphanie, eine quasireligiöse Erscheinung sei es gar gewesen, Beckenbauer bei der WM 1970 mit gebrochenem Arm spielen zu sehen.
Professor Gebauer gibt Gumbrecht von linksaußen kräftig kontra. Dessen Thesen seien nicht zur Erklärung des Phänomens Sport geeignet. Man könne Sport gar nicht als reine Form wahrnehmen, da immer die von den Medien um den Sport herum produzierten „Geschichten“ mit im Spiel seien. Der FU-Wissenschaftler möchte Leibesübungen allenfalls als eine Art kultisches Gemeinschaftserlebnis, als „mindere Quasireligion“ gelten lassen: Das Stadion schließe zusammen, was sonst getrennt ist. „Nein, Sport ist eben eine missachtete Kunstform“, wirft Gumbrecht an dieser Stelle ein. Eine Extremform zwar, aber auch nicht weniger Kunst als Ballett oder Actionpainting. Es gebe natürlich das typische „Schickimicki“-Vorurteil, was „zwei Milliarden Menschen“ gut fänden, wäre eine durch und durch „unkultivierte Angelegenheit“. An dieser Stelle schaltet sich der als „Unparteiischer“ zwischen den beiden Akademikern platzierte Henning Harnisch ein. Doch hier müssen wir zurück an die Redaktion geben. Am Spielstand hat sich bis zum Schlusspfiff nichts mehr geändert.
ANSGAR WARNER
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