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wem die stunde schlägt

von RALF SOTSCHECK

Jedes irische Dorf hat mindestens eine Kirche. Morgens und abends rufen die Kirchenglocken die Gläubigen zur Messe, und zu Silvester läuteten sie mit einem Marathongebimmel das neue Millennium ein. Das kann man ertragen, selbst wenn man mit Gottesdienst und Jahrtausendwahn nichts im Sinn hat.

In Lismore in der südirischen Grafschaft Waterford haben sie sich zum vergangenen Jahreswechsel etwas Besonderes ausgedacht: Man ließ die alte Stadtuhr oben am Gerichtsgebäude reparieren, um das dritte Jahrtausend gebührend zu empfangen. Das klappte ganz vorzüglich, die Bewohner waren stolz auf ihre Uhr, auch wenn das Geläut nicht den satten, dumpfen Ton von Kirchenglocken hat, sondern eher kastriert klingt.

Inzwischen ist der Stolz über die Uhr längst tiefer Verzweiflung gewichen, denn die Sopranglocke hat ein Eigenleben entwickelt: Sie schlägt seit Silvester Tag und Nacht, immer zur halben und zur vollen Stunde, um Mitternacht zwölf Mal. Tipps von Uhrenexperten blieben folgenlos.

Gegenüber im Lismore Hotel findet man morgens erschöpfte Gäste mit dunklen Rändern unter den Augen. Die meisten kommen aus England und den Niederlanden, sie arbeiten in der Cadena-Zigarrenfabrik im Nachbarort Tallow. Ihre Schicht beginnt um halb sieben in der Früh, doch vor Mitternacht geht keiner ins Bett. Danach sind die Schlafchancen etwas besser, weil die Uhr für die nächsten anderthalb Stunden nur einen Ton alle 30 Minuten von sich gibt. Die Drogerie am Ort freut sich über einen Rekordabsatz an Ohropax, so viel habe man davon in zehn Jahren nicht verkauft, sagt der Drogist.

Der Hotel-Manager Jimmy Kelly freut sich überhaupt nicht. Das Lismore Hotel gehört zu den ältesten in Irland. Das Gebäude stammt aus dem Jahr 1770, als Hotel fungiert es seit 1791, als der Herzog von Devonshire im benachbarten Schloss Lismore ausgiebige Gelage veranstaltete und die Bagage irgendwo untergebracht werden musste, wenn Schloss und Gäste voll waren. Damals gab es noch keine Stadtuhr.

Jimmy Kelly sagt, er habe sich an den Glockenterror gewöhnt. Aber er schläft auch im einzigen Zimmer, dessen Fenster nach hinten hinaus gehen. „Muss ich ja“, behauptet er, „denn in dem Raum befinden sich die Schalter für die Alarmanlage.“ Das zermürbende Glockenspiel ist keineswegs neu, vorigen Oktober hatte sich Kelly bereits beim Grafschaftsrat von Waterford beschwert, um behördlich anordnen zu lassen, dass die Gerichtsuhrglocke nachts den Klöppel zu halten habe. Der Grafschaftsrat, dem Gericht und Uhr gehören, gab ihm Recht und schickte einen Exorzisten, der dem Chronometer aus der Hölle zuleibe rücken sollte. Er leistete ganze Arbeit, fortan gab die Glocke keinen Ton mehr von sich, in Lismore herrschte zwei Monate Grabesstille.

Doch dann, kurz vor dem Jahreswechsel, verlangten die Bürger, dass die Uhr wegen der Millenniumfeier wieder instand gesetzt werde. Jimmy Kelly willigte ein, und seither ist die Uhr nicht mehr zu bändigen. Abergläubische halten das für einen Hinweis auf das bevorstehende Ende: Die weinenden Marienstatuen und die holländischen Killertomaten hat die Grüne Insel überstanden, aber gegen die grauenhaften Gottesgerichtsglocken gibt es kein Mittel.

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