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unruhen bei reclam

von JÜRGEN ROTH

Zwar pfiffen es ein paar Spatzen von den geschwungenen Dächern der neuen Messehalle 3, doch wirklich gerechnet hatte niemand damit. Seit vergangenem Freitag, dem Tag des bald legendärsten Buchmessenfestes der Nachkriegsgeschichte, scheint aber klar, dass eine Revolution bei dem altehrwürdigen Traditionsverlag Reclam bevorsteht, ja von den Verlagsverantwortlichen sogar offensiv angestrebt wird.

Diese Vermutung nährten bestimmte Indizien. Die Programmgremien der Reclam-Abteilungen Stuttgart und Leipzig hockten bereits ab 19 Uhr zusammen, verdrückten kanisterweise in der berühmten Verlagsfarbe gehaltenes Bier und führten operative Gespräche. Ein Gruner+Jahr-Emissär lachte unheilschwanger und gab Tipps. Gegen 21 Uhr löste sich die verschwörerische Gruppe auf, und die Hüter des Geistes schwärmten in die von Kronleuchtern honiggelb illuminierten Räume des postviktorianischen Union Clubs International aus, wo der alljährliche Reclam-Empfang stattfindet.

Autoren, Journalisten und eine Majorität interessanter Hobbyalphabeten plünderten gemütlich das grandiose Büfett – da erscholl plötzlich ein greller Schrei aus der Pianobar. „Burn, Lessing, burn!“, schepperte es durch eines der am Eingang jedem Gast überreichten Megaphone, und sogleich folgte die Losung „Goethe, go away! Goethe sucks!“ Das Gemurmel erstarb, ängstliche Blicke wurden gewechselt, blitzartig kamen Mutmaßungen über eine Gruppe eingeschleppter Randalierer auf, als eine dritte Parole den Salon erschütterte: „Dumpf und brutal, laut und voll in die Fresse! Schluss mit Hermann Hesse! Literatur“. Auf Kommando fielen etwa sechs weitere Leute mit ein: „Muss wieder Spaß machen! Hippie-yippie-zicke-zicke-bong!“

Innerhalb kürzester Zeit eskalierte die Situation. Ein hoher Reclam-Mitarbeiter befahl, „sofort die Speedtabletten in den goldenen Teetassen“ zu kredenzen. Der besonnene Prof. Schnorch riss Seidentapeten von den Wänden, aus den Toiletten vernahm man, wie Keramik und Marmor unter dumpfen Schlägen barsten, und der dezente Non-Realisator Bruno Anders tanzte im Tiger-String durch die geschockte Menge.

„Radikale Imagekorrektur!“, skandierte die brüllende Meute, und überfallartige Verbrüderungsszenen sorgten bei den Anwesenden für gewisse Irritationen. Auch Faltlhuber erntete konsternierte Gesichter, während ein Vizegeschäftsführer das Klavier spaltete und ein „Performancemanifest zum neuen Auftritt des besten Verlages der Welt“ in „betont ungehobelten Hinkeversfüßen“ vortrug, das „Kinderarbeit“ und „die bedingungslose finanzielle Endmobilisierung“ forderte. Lösten diese Worte noch vereinzelt Befremden aus, erreichten die unglaublichen Exzesse ihren Höhepunkt, da Schnorch zur nun totalen Zufriedenheit „Hegel-Haschkekse“ unter die Gäste feuerte und auf einem Bein stand und stehen blieb.

Samstagmorgen, versichern die Chronisten, lag das Anwesen am Leonhardsbrunn 12 schließlich still in Schutt und Asche. Zuletzt hatte man Bruno Anders johlen gehört: „Alle nackicht ausziehen jetzt!“

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