piwik no script img

Archiv-Artikel

theorie & technik Scherbengericht mit Michel & Armin

Das Gefängnis ist die perfekte symbolische Form, die dem kapitalistischen Bedürfnis nach Normierung Rechnung trägt

Der Tag, an dem ich nach langer Abstinenz mal wieder „Wir müssen hier raus“ von Ton Steine Scherben hörte, war zugleich der Tag, an dem Deutschland zum Superzuchthaus wurde. Es war, wie Rio Reiser es beschrien hatte: die Bereitschaft, sich von der „Tagesschau“ narkotisieren zu lassen; die Lust des Kleinbürgers, hübsche Vergeltungsmaßnahmen wie „Penisamputation“ oder „Wegsperren“ für gemeingefährliche Freaks zu erwägen.

Was war geschehen? Ein neuer „Grenzbereich des Strafrechts“ hatte sich aufgetan zwischen dem, was vorher noch undenkbar und darum nicht justiziabel erschien, und dem, was als Abnormalität nun irgendwie Eingang in die Logik unseres Rechtssystems finden musste. Armin Meiwes, als „Kannibale von Rotenburg“ schnell medial entsorgt, hatte seine volle Schuldfähigkeit demonstriert für ein Verbrechen, das es eigentlich gar nicht geben durfte. Der Richterspruch baute auf den Tatbestand des Totschlags und damit auf ein vergleichsweise geringes Strafmaß, gemessen an der moralischen Empörung, die sich am mangelnden Unrechtsbewusstsein des Angeklagten entzündet hatte. Dass nun eine Revision des Urteils am BGH erfolgt, spricht für die Leerstelle, die ein solch infamer Mensch im juristischen Diskurs bezeichnet.

Nun war schon 1972, als die Scherben ihren Klassiker „Keine Macht für Niemand“ veröffentlichten, mitunter strittig, was die Hölle, aus der man da gemeinsam entfliehen wollte, eigentlich umfasste. Mit Penne, Fabrikmaloche und Knast war allenfalls das Kontinuum benannt, das einem von der Wiege bis zur Bahre eine negative Utopie als Normalität verkaufen wollte. 1973, als die Scherben ihre Kritik der Disziplinargesellschaft hörbar abmilderten, sollte es Michel Foucault vorbehalten bleiben, den Zusammenhang zwischen staatlicher Kontrolle und der vorsorgenden Überwachung „abnormer“ Individuen stärker herauszuarbeiten. In der Vorlesungsreihe „La vérité et les formes juridiques“, gehalten an der katholischen Universität in Rio, probiert Foucault einige der Forschungshypothesen aus, die schließlich in „Surveiller et punir“ ihre endgültige Form erhalten sollten.

Foucault interessiert also, warum und wie sich das Gefängnis als bevorzugtes Mittel der Bestrafung herausgebildet hat, und spannt deshalb einen weiten Bogen vom germanischen Recht, wo statt einer Zeugenbefragung und Beweisaufnahme eine ritualisierte Probe über Schuld und Unschuld entschied, über das feudale Recht, wo geregelte Untersuchungsverfahren entstehen und die staatliche Macht immer stärker in die Schuldverhältnisse seiner Untertanen eindringt, bis hin zu den legalistischen Strafrechtstheoretikern des 18. Jahrhunderts, die für Gesetzesverstöße eine entsprechende Wiedergutmachung an der Gesellschaft durch ein klar bestimmtes Strafmaß vorsahen. Den durchschnittlichen Menschenfresser round the corner, so muss man sagen, hätte in allen drei historischen Perioden der Tod erwartet, weil die sozialtechnischen Ideen, die auf die Beobachtung und Besserung verhaltensauffälliger Individuen zielten, erst im 19. Jahrhundert aufkamen.

Dass nun ausgerechnet „eine derart paradoxe und unpraktische Institution“ wie das Gefängnis zum bevorzugten Mittel der Strafabgeltung werden konnte, erklärt Foucault damit, dass es sich perfekt als symbolische Form eigne, die dem kapitalistischen Bedürfnis nach Normierung Rechnung trägt. Seine erste Botschaft laute: „So ist die Gesellschaft; ihr könnt mich nicht kritisieren, denn ich tue nur, was man Tag für Tag in der Fabrik oder der Schule mit euch macht.“ Seine zweite Botschaft sei: „Der beste Beweis dafür, dass ihr nicht im Gefängnis seid, ist die Tatsache, dass ich als eigenständige, gesonderte Institution existiere und nur für diejenigen bestimmt bin, die gegen das Gesetz verstoßen haben.“

Wie mir jetzt erst im Rückblick klar wird, lehnten sich die Scherben gegen die erste Botschaft auf, obwohl sie an deren bittere Wahrheit glaubten. Dies fand sogar den Beifall derer, die ihren Frieden mit den Disziplinarinstitutionen gemacht hatten. Die Tatsache, dass Armin Meiwes energisch die zweite Botschaft in Zweifel zog, wurde hingegen als abweichendes Verhalten verbucht, das gleichwohl strafmindernd für ihn gewertet wurde. Die Ordnung der Dinge – schon a bisserl verrückt. JAN ENGELMANN

Michel Foucault: „Die Wahrheit und die juristischen Formen. Mit einem Nachwort von Martin Saar“. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2003, 187 S., 9 €