themenläden und andere Clubs Vokuhila-Joyce-Experten beim Friseur in Neukölln: Sieben Achtel kapieren dit nich
Wenn es dunkel wird, in eigentlich coolen Cafés und Bars „der Stimmung wegen“ plötzlich alberne Kerzen angezündet werden und die Menschen ihren Kindern vorlügen, es sei schon gaaanz spät und sie müssten jetzt schleunigst ins Bett, dann setze ich mich manchmal in den 129er und fahre zum Friseur.
Es gibt zwar nichts Erniedrigenderes, als mit nassen, arschglatten Haaren und einem Lätzchen vor einem Spiegel zu sitzen, aber die Hoffung, dass in den hell erleuchteten Salon abends weniger Menschen hereinspannen als tagsüber, ist wohl ein rudimentäres, zugegeben trügerisches Überbleibsel aus Kindertagen.
Meine Friseuse habe ich erwählt, weil in ihrer Schaufensterecke in angenehm altmodischen Schreibschrift „Wir schneiden auch 60er Jahre Haarschnitte!“ steht. Ich habe es noch nie bereut. Vor allem, wenn sich dort Szenen wie die letzten Mittwoch abspielen.
Letzten Mittwoch hing ich mit nassem Schädel im Kopfwaschbecken und meditierte, meine Friseuse schnippelte wild an der Vokuhila-Tönfrisur einer Neukölln-Prolette neben mir herum. „Ick hab ja jehört, dass dieset ‚Ulysses‘ dit allerbeste Buch der Welt sein soll, wat überhaupt je jeschriem worn is“, legte die Prolette plötzlich vor. „So’n jutet Buch soll et ja nur eenmal jeben. Ick hab’s mir gleich jekooft.“ „Und??!“, fragte meine Friseuse und echote ich ton- und fassungslos aus dem Kopfwaschbecken. „Na ja, also erstma isses ja nich auf Deutsch, sondern so ne komische Mischung aus Griechisch, Englisch, Französisch, weeß icke“, analysierte die James-Joyce-Expertin. „Und denn, also ick muss sagen, ick gloobe, dass dit Buch wirklich so sagenwamal sechs Achtel der Menschen nich verstehen. Wenn nich sogar jute sieben Achtel. Gloob ick.“ „Ach ja?“, sagte meine Friseuse, die schon vieles erlebt hat, höflich. Unmöglich, ihrem Gesichtsausdruck irgendetwas zu entnehmen. Außerdem hatte ich Shampoo (oder Tränen?) im Auge.
„Und wie der schreibt, also, der kommt ja jaa nisch auf’n Punkt“, sagte Miss Neukölln. „Immer dieses Herumjerede, der ‚bestrumpfte, jeviertelte, viereckije Fuß‘ und so. Ick weeß nich.“ Ich wußte auch nicht und biss in mein, vom Friseurstift oder wie das heißt, mir eilig über den Kopf geworfenes Handtuch. Der Friseurstift fing an, mir das Haar trocken zu wuseln. „Haben Sie denn dieset Uli-Buch ooch jelesen?“, fragte mich der Stift, eine junge, lockige Türkin, als mein Kopf wieder zum Vorschein kam. „Nö“, sagte ich, „ich kann ja nur Deutsch . . .“ „Ach so.“
„Vielleicht sollte ick dit mal koofen, wenn dit so jut ist“, überlegte die Türkin weiter. Den Rest des Termins, das Schneiden, das Ondulieren, das Rasieren, nahm ich nicht mehr richtig wahr. Ich war in Gedanken. Ob die Joyce-Verleger Neukölln unterschätzt haben? Ob dort, im tiefen Süden Berlins, Riesen-Umsatzmärkte warten? Ob Neukölln den Joyce-Erben ein neues Anwesen finanzieren könnte? Ob Neukölln überhaupt ein intellektuell völlig unterschätzter Stadtteil ist? Und ist das Gebäude neben meinem Friseursalon, vor dem immer die vielen Kampfhund-Jogginghosen Schulle schütteln, nicht das „Philosophisch-Humanistische Literatur-Kolloquium“?
Vielleicht, dachte ich, muss ich auch mal Ulysses lesen. Soll ja so gut sein. Außerdem will ich beim Friseur mitreden können.
JENNI ZYLKA
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