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themenläden und andere Clubs Eu-Stress, Euphorie, EuroscheckLernen in der Notaufnahme

Das Schicksal und undefinierbare Körperschmerzen verschlugen mich Hypochonder („I told you, I was sick“ werde ich auf meinen Grabstein meißeln lassen) neulich des Nächtens in die Notaufnahme eines schrabbeligen Großkrankenhauses, in dem kein einziger Arzt aussah wie Dr. Kovac oder auch nur wie Dr. Carter. Was natürlich nichts über die medizinische Kompetenz aussagt, ist mir schon klar, gutaussehende Schlagzeuger sind ja auch nicht unbedingt die besseren Schlagzeuger.

Aber ich komme schon wieder von Höcksken auf Stöcksken. Im Warteraum der Notaufnahme, in dem ich so viele Stunden zubringen musste, dass mir danach außer meinem niedersächsischen Steiß rein gar nichts mehr wehtat, las ich eine feine Broschüre über die Risikofaktoren, die einen Herzinfarkt auslösen können. Der Hauptfaktor ist natürlich – Stress. Den kenn ich gut. Um es mit einem abgewandelten Erich Kästner-Zitat zu sagen, das mir mal jemand ins Poesiealbum geschrieben hat: Das Schlimmste für Jenni ist Stress/ Ihn gibt’s immer reichlich/ Er rinnt unvergleichlich/ zärtlich durch die Hand. Wobei die letzte Zeile, zugegeben, nicht mehr richtig passt, weder semantisch noch vom Zeilenmaß her. Jedenfalls: Es gibt zwei Arten Stress, lernte ich aus der Infarktsbroschüre, einen guten und einen bösen. Den guten erleben Schauspieler vor ihrer Premiere, man nennt ihn Eu-Stress, woraufhin mich ein schlauer Kopf aus meinem Bekanntenkreis gleich auf den Zusammenhang zwischen positiv besetzten Worten mit Eu am Anfang hinwies: Eu-Stress. Euphorie. Eudämonie. Eunuch. Euroscheck. Na ja.

Der negative Stress, der sich nicht problemlos auflösen lässt, den man empfindet, wenn alles über einem zusammenbricht, wenn ein Text bis vorhin fertig gewesen sein soll, unter dem Schreibtisch die Steuer schreit, der Computer und man selber gestern abgestürzt sind, und das alles auch noch mit angeknackstem Herzen, den nennt man Dis-Stress (andere Schreibweisen behaupten auch Dy-Stress oder Di-Stress). Das hat über einige sprachtheoretische Umwege durch Griechenland garantiert auch etwas mit Dissen zu tun, vielleicht sogar mit Dissertation. Von zuviel Dis-Stress kann man einen Herzinfarkt bekommen.

Stressoren, wie „Pioniere der Stressforschung“, zum Beispiel der berühmte Professor Doktor Selje sie nennt, werden natürlich rein subjektiv wahrgenommen: Komischerweise macht es mir persönlich nicht viel aus, an Kassenschlangen anzustehen. Das liegt, glaube ich, daran, dass mir in einer sehr empathischen Phase mal jemand gesagt hat: „Das Warten an der Kassenschlange hat für mich etwas stark Meditatives“. Vielleicht habe ich es ja auch nur falsch verstanden, und die Person sagte in Wirklichkeit „etwas stark Kapitalistisches“. Doch seitdem stresst mich Kassenwarten überhaupt nicht mehr. Dagegen: Auf die U-Bahn warten, lässt mein kleines Herz unregelmäßig bumpern wie Charlie Watts. Das nervt! Das dis-stresst! Wieso kommt diese verdammte U-Bahn nicht? Wieso kommt die gegenüberliegende zweimal?? Wieso soll ich für diese verdammte U-Bahn auch nur einen Cent bezahlen, wenn sie dafür verantwortlich ist, dass ich irgendwohin zu spät komme?? Genau! Dann dis-stresst natürlich aber leider auch das ängstliche Kontrolleur-Gucken.

Mit Ausgehen mache ich mir übrigens schon seit einer Weile keinen Dis-Stress mehr. Nur noch Eu-Stress: Wenn es zu anstrengend ist, irgendwo hinzufahren oder reinzukommen, mache ich mich einfach rar. Der Eu-Stress danach, wenn man sich entschieden hat, stattdessen etwas anderes zu machen, ist einfach zu schön. Es darf nur keiner ankommen und vom Verpassen faseln. Sonst kriege ich sofort einen Herzinfarkt. JENNI ZYLKA

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