tellerrand: Kritik der essenden Vernunft: Auf Siebecks Spuren
Teil 1: In der Business-Class
Wolfram Siebeck, Zeit-Kolumnist von Welt und Papst der deutschen Küchenkritiker, hat jüngst die Restaurants Berlins durchstreift und ein Büchlein daraus gemacht. Der viel gereiste Feinschmecker unterteilt es der Einfachheit halber in First-, Business- und Economy-Class, und er ist der Einfachheit halber mit den teuren Restaurants der Spitzenklasse zufrieden, hält sich mit dem Lob in der Mittelklasse ein wenig zurück und behandelt die bürgerliche Economy-Class zuweilen mit genießerischem Spott. Vom alten Ruf der Hauptstadt der „Currywurst, der Stehimbisse und Billigkneipen“ verfolgt, entdeckt er plötzlich ein „bizarres Raumschiff“. Damit meint er nicht etwa das futuristische Zementkonstrukt gegenüber dem Reichstag, sondern „dieses schwarzweiße Fachwerkhaus in Sichtweite des Kanzlerbaus, denkmalgeschützt und eine gastronomische Perle von seltenem Glanz in dieser Gegend“. Von der Vergangenheit des altertümlichen Raumschiffs, Baujahr 1898, oder von dem Limonadenbudenbesitzer, der in dem Häuschen eine Kutscherkneipe einrichtete, die später als „Mutter Buschs Schultheissklause“ bekannt wurde, ahnt der Kritiker Gott sei Dank nichts. Auch der Name des Lokals, „Paris–Moskau“, der nicht nur auf die unmittelbare Nähe zur ehemaligen Bahnlinie, sondern auch auf die weit reichende Topografie der kulinarischen Einflüsse anspielt, regt ihn zu keinem Gedanken an.
Dem Gentlemen mit den hoch dotierten Geschmacksrezeptoren „fallen als Erstes die weißen Tischdecken ins Auge, darauf die korrekten Gläser“ beides ganz offensichtlich außergewöhnlich für ein Berliner Restaurant. Er registriert als Nächstes die denkmalgeschützte „gruftige Holzanrichte“, wendet sich endlich der Weinkarte zu und wundert sich, dass kaum einer der ausgesuchten Weine über 50 Euro kostet. „Auch die Speisekarte zögert merklich, Hauptgerichte für mehr als 25 Euro anzubieten.“ Deshalb sitzen in der Business-Class des „Paris–Moskau“ gewöhnlich nicht nur Geschäftsreisende in edlem Zwirn, sondern auch Gäste, die eigentlich in die 3. Klasse gehören. Die verhaltenen Preise scheinen den verwöhnten Feinschmecker zu irritieren. Doch er muss zugeben: „Alles schmeckt ganz hervorragend.“ Und so verschroben Herr Siebecks Vorstellung von Raumschiffen auch sein mag, seine Geschmacksnerven haben sich nicht betrügen lassen. Zwar hat er nicht vom legendären Ziegenkitz oder von den Kalbskutteln in Riesling mit Spargel und Morcheln gekostet, sondern sich mit weniger exotischem wie Kaninchenragout und Rote Beete oder gratiniertem Kabeljau mit Senfsauce auf Blattspinat bedienen lassen. Doch auch das zeige „erfreuliche Resultate“. Wenn es nur ein bisschen teurer gewesen wäre, dann hätte der Kritiker das „Paris–Moskau“ womöglich in die 1. Klasse seines kulinarischen Reiseführers katapultiert. Wo es auch hingehört.
HANS W. KORFMANN
Paris–Moskau, Altmoabit 141, Tel. 3 94 20 81; in: „Berlin – seine Gastronomie, beschrieben und bewertet von Wolfram Siebeck“, Burgschmiet Verlag, Nürnberg, 208 S., 19,90 €. Demnächst: Teil II: Economy-Class
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