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taz-serie: kippt der osten?KLAUS LANDOWSKY zu den Thierse-Thesen

Ein Beitrag zum Dunkelland

Der Osten steht „auf der Kippe“: Mit diesem Satz hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bundesweit eine erregte Debatte ausgelöst. In Berlin blieb es bislang merkwürdig still. Sind in der Region bereits alle Probleme gelöst? Oder werden sie von der Politik nur ignoriert? In der taz antworten Prominente aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Heute: Klaus Landowsky, CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus.

„Bergentrückt“ soll er gesessen haben und immer noch sitzen – auf bessere Zeiten wartend. Jetzt hat Barbarossa einen lebendigen, „angreifbaren“ Epigonen: Zeitlich gut abgestimmt, hat Wolfgang Thierse seine „vertraulichen“ Thesen für bessere Zeiten im Osten just in dem Moment durchsickern lassen, als sein neuestes Buch zum Verkauf anstand (36 Mark pro Stück). Hauptaussage: Wenn mit dem Osten nichts passiert, dann passiert was. Denn „die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland steht auf der Kippe. Angesichts des erfolgreichen Westens erscheint der Osten als abgehängt. Ostdeutschland ist aus dieser Sicht kein Land des Übergangs mehr, sondern auf Dauer zweitrangig gestellt.“

Die PR-Maschinerie funktionierte: Landauf, landab zankten sich die Kommentatoren des Weltgeschehens um die Frage, ob der SPD-Vize aus dem Osten damit seinem Kanzler ins Knie getreten hat, ob er maßlos überzeichnet oder ob er einen unverzichtbaren Kassandraruf zur richtigen Zeit ausgestoßen hat.

Ich will mich an der Beurteilung der Thesen nicht beteiligen. Es reicht, was Thierses Parteifreunde von Schwanitz bis Stolpe dazu erklärt haben.

Bemerkenswert hingegen finde ich den eher unbeachtet gebliebenen Umstand, dass – soweit ich mich erinnern kann – erstmalig in der Geschichte der Republik ein Bundestagspräsident sich unterfängt, ein Strategiekonzept für den nächsten Wahlkampf seiner Partei zu entwerfen. Bisher war es guter parlamentarischer Brauch, dass sich der Präsident möglichst überparteilich verhält und sich bemüht, allen Abgeordneten aller Fraktionen Identifikation und Integration zu bieten.

Noch nie zuvor hat sich ein Bundestagspräsident so sichtbar und so einseitig in die parteipolitischen Niederungen begeben wie Thierse. Das wurde deutlich in der Parteispendenaffäre, das war schon fast unerträglich im Streit mit dem brandenburger Innenminister Schönbohm, das gipfelte vor kurzem in dem Satz, dass heutige Skinheads in 20 Jahren Minister werden könnten – und das wiederholt sich nun mit seinem SPD-Strategiepapier. Damit wolle er der SPD im Osten „die Wählerbasis schaffen, die ihr 1998 zum Sieg verhalf“.

Thierses Thesen einen nicht, sondern entzweien. Selbst nach eigenem Bekunden „bewusst überzogen und einseitig“, bedient er bedenkenlos alle alten Klischees vom benachteiligten Osten, übergeht die großartige Aufbauleistung seiner Menschen, erwähnt mit keinem einzigen Wort die 1,3 Billionen Mark Transferleistungen. Er verwahrt sich gegen den unschönen Begriff „Dunkelland“, trägt aber mit seinen Thesen genau zu diesem Bild bei.

Nein, Herr Thierse hat weder den Menschen in den neuen Ländern einen Dienst erwiesen noch der Politik des Ausgleichs und des Zusammenwachsens. Wo seine Sorgen berechtigt sind, sitzt er selbst an den Schalthebeln, wo sie unberechtigt sind, dort sind sie auch schädlich. Vor allem aber hat er dem Ansehen des Amtes geschadet, das eigentlich über den Parteien stehen sollte. Si tacuisses ... Wie endet Rückerts Barbarossa-Gedicht? „Und wenn die alten Raben / Noch fliegen immerdar / So muß ich auch noch schlafen / Verzaubert hundert Jahr.“

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