taz Talk zu jesidischen Perspektiven: Über den Schmerz sprechen
Tausende Jesid:innen wurden im August 2014 vom IS ermordet. In der taz sprachen Expert:innen und eine Überlebende über den Genozid.
Vor zehn Jahren hat Hakeema Taha die Hälfte ihrer Familie verloren. Ihr Vater ist tot, sieben ihrer Brüder starben, ihre Neffen und Onkel sind ebenfalls nicht mehr am Leben. Auch ihre Mutter und Schwiegermutter wurden ermordet, weil IS-Terroristen entschieden, dass sie zu alt seien, um sie für ihre Zwecke gebrauchen zu können.
Im August 2014 drang die Terrormiliz Islamischer Staat in jesidische Dörfer und Städte im Shingal ein, der Heimatregion der Jesid:innen in Irak. Männer und Jungen über 14 sowie ältere oder kranke Menschen wurden hingerichtet und in Massengräbern verscharrt. Hunderttausende wurden vertrieben, Frauen und Kinder wurden verschleppt, versklavt und misshandelt. So auch Hakeema Taha. Am Mittwochabend erzählt sie im taz Talk in der taz Kantine von ihrem entsetzlichen Schicksal. Neben ihr sitzen Menschen, die sich auf unterschiedliche Arten für die Anerkennung und Rechte von Jesid:innen einsetzen:
Düzen Tekkal, Journalistin, wuchs als Kind jesidischer Kurden in Deutschland auf, heute ist sie eine der sichtbarsten deutschen Menschenrechtsaktivist:innen. „Es gibt ein Leben vor dem August 2014 und eines danach“, sagt sie eingangs.
Ihre 2015 gegründete Organisation HÁWAR.help setzt Entwicklungs- und Aufklärungsprogramme in Irak, Afghanistan und Deutschland um und kämpft für Frauen, Kinder und Minderheiten, die etwa aufgrund ihrer Religion, Ethnie oder ihres Geschlechtes verfolgt oder diskriminiert werden.
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Max Lucks ist Bundesabgeordneter der Grünen und Obmann des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Bundestag. Außenpolitisch spricht er in Bezug auf den August 2014 von einem „unglaublichen kollektiven Scheitern“. Im Januar 2023 hat der Bundestag die Verbrechen des IS an den Jesid:innen als Völkermord anerkannt. Dafür war Max Lucks maßgeblich mitverantwortlich. Ohne den Druck der jesidischen Gemeinschaft in Deutschland wäre das jedoch nicht möglich gewesen, sagt er.
Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist Tochter eines kurdischen Jesiden und hat die Überfälle in Nordirak aus Deutschland mitverfolgt. Seit 2014 versucht sie, den Genozid an ihrer Gemeinschaft literarisch aufzuarbeiten, und sagt im taz Talk: „Was nicht gesprochen werden kann, spricht auch.“
Der IS verkaufte Hakeema Taha als Sklavin
Gemeinsam wollen die Expert:innen an diesem Abend Fragen diskutieren wie: Was müssen Gesellschaft und Politik leisten, damit Jesid:innen in Deutschland und Irak sicher leben können? Warum passiert außenpolitisch nicht mehr, um die jesidischen Gebiete in Shingal wiederaufzubauen? Und warum gibt es noch immer keinen Abschiebestopp für Jesid:innen, die oft traumatisiert in der Diaspora in Deutschland leben?
Düzen Tekkal, Menschenrechtsaktivistin
In erster Linie geht es aber vor allem um eine Person: Hakeema Taha. 19 Jahre alt war sie, als sie in IS-Gefangenschaft geriet. Aus ihrem Heimatdorf Kojo sei sie gemeinsam mit vielen anderen Frauen verschleppt worden, nachdem sie mehrere Tage dort eingeschlossen war. Eine Flucht sei unmöglich gewesen, die IS hatte alle Wege nach außen versperrt.
„Wo bringt ihr uns hin?“, hätte sie die IS-Männer immer wieder gefragt. Diese hätten sie nur ausgelacht, sie mit Pistolen geschlagen und gesagt: „Wir fahren euch nach Kurdistan zu eurer Familie.“ Dann wurde sie mehrfach als Sklavin verkauft.
Jeder, der in einer jesidischen Familie geboren ist, kenne die langen Verfolgungsgeschichten von Großeltern und Urgroßeltern, erzählt Ronya Othmann. „2014 war es wie, als wäre diese Vergangenheit wieder Gegenwart geworden.“ Niemals hätte sie geglaubt, dass die Gesellschaft heute, 10 Jahre nach dem Genozid, an diesem Punkt sei: Zwar habe es Strafprozesse in München und Frankfurt gegeben, jedoch seien viele Täter:innen bis heute nicht juristisch belangt worden. „Darauf warten wir bis heute.“
Noch immer herrschen in Irak katastrophale Zustände für Jesid:innen. „In Bagdad interessieren die Massengräber nicht, überall werden Schlussstrichforderungen laut, der Genozid sei vorbei“, berichtet Düzen Tekkal. Währenddessen befinden sich noch immer zahlreiche Menschen in IS-Gefangenschaft, darunter vier von Tahas Familienmitgliedern.
Viele andere Verfolgte leben seit Jahren unter unsäglichen Bedingungen in Camps in Nordirak und fürchten jeden Tag ums Überleben. Sie können nicht in ihre Heimat zurückkehren, denn die jesidischen Gebiete sind nicht sicher für sie.
Jesid:innen müssen um Abschiebung fürchten
Hakeema Taha ist die Flucht aus ihrer Gefangenschaft gelungen, heute lebt sie mit ihrem Bruder in Deutschland. Doch auch diejenigen, die es hierhergeschafft haben, müssen um ihre Möglichkeit bangen, ein neues Leben zu beginnen. Zwar hat der Bundestag den Genozid 2023 anerkannt, gleichzeitig werden immer wieder Fälle von angedrohten oder vollzogenen Abschiebungen irakischer Jesid:innen bekannt. Auch Tahas Bruder hat einen Abschiebungsbescheid erhalten.
„Wer, wenn nicht Deutschland, zeigt sich verantwortlich?“, fragt Düzen Tekkal. Die Öffentlichkeit könne Abschiebungen verhindern, auch die Zivilbevölkerung müsse hier aktiv werden, etwa mit offenen Briefen an Politiker:innen.
Max Lucks macht deutlich, dass sich auch außenpolitisch noch viel verbessern muss. „Wir reden von indigenen Gruppen, die vom Exodus betroffen sind“, sagt er. Jesid:innen in der Diaspora sichtbar zu machen, sei wichtig, „aber wie können wir dafür sorgen, dass es auch im Nahen Osten eine Zukunft gibt?“
„Ich möchte, dass sie wissen, dass es uns noch gibt“, sagt Taha. Mit „sie“ meint sie ihre Peiniger, die mit ihrem Versuch, alle Jesid:innen in Shingal auszulöschen, gescheitert sind. Hakeema Taha werde deshalb immer und immer wieder ihre Geschichte erzählen. Von der deutschen Zivilbevölkerung wünscht sie sich, dass sie ihrer Gemeinschaft zuhört, sie unterstützt und gut behandelt, „wie andere Menschen auch“. Damit das, was 2014 passiert ist, nie wieder passiert.
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