taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Von der Sonne angetrieben
Ganz entspannt über Spree und Havel schippern: Eine „Sommer vorm Balkon“-Sonntagsfahrt mit dem Solarboot Orca Ten Broke.
Bislang konnte das Schiff ausschließlich für Veranstaltungen gebucht werden, doch mit Beginn der Coronakrise war Eigentümer und Betreiber Felix Eisenhardt gezwungen, sich auch alternative Nutzungskonzepte zu überlegen. Seit Pfingsten kann man daher bei „Sonntagsfahrten“ ab 11 Uhr von Alt-Moabit Richtung Schildhorn, eine kleine Halbinsel in der Havel am Grunewald, schippern. Platz, um die derzeit nötigen Abstände einzuhalten, bietet das Boot genügend. Tickets gibt es ab 21 Euro.
Das Ehepaar Krenz hat einige Tage zuvor zufällig die Orca Ten Broke entdeckt und ist nun mit an Deck. „Es gehört schon eine ordentliche Portion Mut dazu, sich mit so einer ungewöhnlichen Idee selbstständig zu machen“, so Michael Krenz. Und seine Frau Kerstin ergänzt: „Ich finde es toll, dass durch die Elektrifizierung der Boote in den Innenstädten die Luft sauberer wird.“
Bei der heutigen Fahrt spielt das Wetter mit: Es sind 27 Grad, eine leichte Brise weht und die Wolken ziehen zügig am Himmel entlang. Einige der vierzig Passagiere haben ihre Fahrräder mitgebracht: Wer möchte, kann beim Zwischenstopp am ehemaligen Wirtshaus Schildhorn das Schiff verlassen und durch den Grunewald zurückradeln. Auf dem Oberdeck tummelt sich Jung und Alt, in Grüppchen genießen sie den Ausblick auf die Uferpromenade des Westfälischen Viertels und Charlottenburg. Auch die drei Hunde an Bord spüren die Bewegung des Schiffes und wuseln aufgeregt herum.
Flammkuchen und Kürbissuppe
Weiter unten im kleinen Außenbereich vor dem Schiffsinnenraum geht es ruhiger zu. Er befindet sich direkt vor der sogenannten Brücke – dem „Kapitänshäuschen“. Das kleine Plateau vom Oberdeck erreicht man über zwei gegenüberliegende geschwungene Treppen. Oben haben sich die Gäste bereits drinnen an der Bar mit Getränken und Knabberzeug versorgt. Flammkuchen oder eine Kürbis-Ingwer-Suppe stehen ebenfalls auf der Karte.
Kurz hinter der schmucken, über hundert Jahre alten Gotzkowskybrücke passiert das Schiff die Kreuzung von Spree, Landwehrkanal und Charlottenburger Verbindungskanal. Hier zeigt sich steuerbords prachtvoll das alte Heizkraftwerk Charlottenburg im Stil der Backsteingotik. Wer Eisenhardt während der Tour anspricht, kann Interessantes über die Geschichte Berlins erfahren: So sollte das im Jahre 1900 in den Betrieb gegangene Heizkraftwerk 25.000 Glühlampen gleichzeitig zum Leuchten bringen können – eine Machtdemonstration der damals noch eigenständigen Stadt gegenüber Berlin. Etwas später können aufmerksame Beobachter direkt hinter der Schlossbrücke durch die Baumwipfel zur linken Hand einen Blick auf die Fassade vom Schloss Charlottenburg erhaschen.
Aber wie kommt man überhaupt auf die Idee, einen klimaneutralen, schwimmenden Veranstaltungsort zu entwickeln?
Die Liebe für das Wasser hat Felix Eisenhardt schon in früher Kindheit auf dem Tegernsee entdeckt. Er ist begeisterter Segler – und wohl einer der wenigen in Berlin, der die so typisch hanseatischen Segelschuhe trägt. Seine Frau Uta hat er mit dieser Leidenschaft angesteckt, und so kam es, dass die beiden 2004 den Traum von einem eigenen Hausboot realisierten. Auf der Helene leben sie seitdem mit ihren beiden Kindern.
Hundert Solarpaneele
Bevor Eisenhardt sich selbstständig gemacht hat, arbeitete er im Veranstaltungsmanagement des Energieforums Berlin. Schließlich kombinierte er die gesammelte Expertise vom Bau der Helene und seine Erfahrungen mit dem Ausrichten von Firmenevents und -tagungen im Energieforum: Geboren war die Idee des Seminarschiffs. Das technische Konzept hat Eisenhardt, der eigentlich diplomierter Geologe ist, großteils selbst erarbeitet. Das Schiff verfügt über etwa hundert Solarpaneele mit einer Fläche von 120 Quadratmetern, die an sehr sonnigen Tagen 27.000 Watt produzieren und damit allein für den Antrieb des Schiffes und dessen Stromverbrauch an Bord sorgen. „Das ist das Äquivalent von 27 Wasserkochern“, so Eisenhardt stolz. Falls der Solarstrom an bewölkten Tagen oder im Winter einmal nicht reichen sollte, kann auf einen CO2-neutral betriebenen Generator oder Landstrom aus erneuerbaren Energien ausgewichen werden.
An Deck macht sich dann bemerkbar, dass den höheren Decken im Innenraum und der Energieautarkie zuliebe doch kleine Abstriche gemacht werden mussten: Das hydraulisch verstellbare Solardeck kann bei der Sonntagsfahrt erst nach der Rohrdammbrücke hinter dem Charlottenburger Schloss hochgefahren werden, denn diese ist mit etwa fünf Metern Höhe recht tief. Bis dahin müssen sich Besucher unten im Außenbereich oder hinter der Kapitänsbrücke gedulden, wo das Solardach aufhört. Es folgt ein kurzer Hinweis, bitte jetzt nicht aufzustehen – denn sonst läuft man Gefahr, einen Kopf kürzer zu werden.
Hinter der Brücke hebt sich das Solardach dann um etwa zwei Meter und gibt die Fläche darunter frei. Die Gruppen entzerren sich und die Gäste verteilen sich auf Loungemöbel aus Holz und bunten Hängematten.
Um kurz vor 12 Uhr, nach einem kurzen Halt an der Schleuse Charlottenburg, findet man sich dann endgültig im Berliner Industriegebiet wieder: Zwischen großen Klinkergebäuden, Klärwerken und Lagerhallen einer Werft sind immer wieder eindrucksvolle alte Industriebauten zu sehen wie das Heizkraftwerk Reuter, das heute von Vattenfall betrieben wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zunächst demontiert und Ende der Vierzigerjahre von den Alliierten mithilfe der Luftbrücke wieder aufgebaut, um die Stromversorgung in Westberlin zu sichern.
Einfach mal entschleunigen
Den Gästen gefällt die kleine Zeitreise: „Dass das Boot eben nicht durchs Regierungsviertel und die Innenstadt, sondern durchs Industriegebiet fährt, finde ich total interessant“, sagt Sophia P. aus Moabit. „Auf diese Weise lernt man eine ganz andere Seite Berlins kennen.“ Ihre Familie macht an dem Tag schon das zweite Mal die sechsstündige Sonntagsfahrt mit dem Solarboot. „Hier kann man einfach mal das Nichtstun genießen und entschleunigen.“
Vorbei am Heizkraftwerk Reuter, vor der Altstadt Spandaus, begibt sich das Seminarschiff auf die Havel, an den Ufern wird es merklich grüner.
Durch den kleinen Hafen in Pichelswerder hindurchgeschippert, nähert sich das Schiff dem Anleger vom ehemaligen Wirtshaus Schildhorn, ein wunderschönes denkmalgeschütztes Ensemble, das Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist und derzeit renoviert wird.
Berlin ist großartig – auch und gerade im Sommer. Als Berlin-Redaktion wissen wir das natürlich. Und weil Zuhausebleiben in Coronazeiten ohnehin angesagt ist, machen wir da doch gern mal mit. Denn abseits der ausgetrampelten Touristenpfade und abseits der Pfade, die man selbst im Alltag geht, gibt es in dieser Stadt immer noch genug zu entdecken, sodass selbst Ureinwohner beeindruckt sind. Hoffen wir zumindest.
In loser Folge begeben wir uns auf Erkundungen, Stippvisiten und Spaziergänge. Nachlesen, was bereits erschienen ist, kann man unter taz.de/sommer-vorm-Balkon. (akl)
Etwa die Hälfte der Gäste geht nun von Bord und tritt den Rückweg auf dem Rad durch den Grunewald an. Die verbliebenen Passagiere können den einstündigen Aufenthalt im Grünen für einen Spaziergang oder für eine Erfrischung nutzen: Etwa zehn Minuten vom Anleger entfernt, an der Badestelle Schildhorn, mündet der Strand flach in die Havel und lädt zu ein paar Schwimmzügen ein.
Unbeschwert mit Musik
Für Geschichtsinteressierte empfiehlt sich ein Abstecher zum Schildhorn-Denkmal am Nordwesthang der Halbinsel: Hier soll der Slawenfürst Jaxa von Köpenick 1157 bei der Flucht vor Albrecht dem Bären fast ertrunken sein. In seiner Verzweiflung rief er den verhassten „Christengott“ um Hilfe, dem er danach aus Dankbarkeit für seine Rettung sein Schild und Horn an einen Baum gehängt und die christliche Glaubenstreue geschworen haben soll – so auch die Erklärung für die Namensgebung der Halbinsel.
Während der Rückfahrt herrscht bei Loungemusik eine unbeschwerte Stimmung unter den Gästen. Insgesamt ist zwar spürbar, dass sich auf dem Seminarschiff noch keine wirkliche langjährige Routine bei den Sonntagsfahrten eingestellt hat – mal hapert es beim Lautsprecher an Deck, dann ist die Suppe bereits nach einer Stunde aus oder das EC-Gerät an der Bar ist etwas eigenwillig –, aber das macht es auf sympathische Art und Weise unprätentiös und familiär.
Jeder kann hier für sechs Stunden walten, wie er will: Zurückgezogen lesen, sich mit Freunden einen Schwips antrinken, Baden gehen, Radfahren, ein Nickerchen machen oder mit dem Hund spielen – jeder findet hier seinen Platz. Und so blickt man doch in sehr gelassene und zufriedene Gesichter, als das Schiff den Heimathafen Alt-Moabit am Abend gegen 17.30 Uhr wieder erreicht.
Weitere Infos unter www.seminarschiff.com
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