taz-Serie Schillerkiez: Die Kneipenwirtin: Die russische Kiez-Seele
Marina Kremlevskajas "Bechereck" ist eine der vielen Eckkneipen des Schillerkiezes. Hier gibt es rund um die Uhr Bier und Kurze - und Gäste, die sagen: "Sie hätten uns den Flughafen lassen sollen".
"Meine Seele liegt in dieser Kneipe." Zwischen den Worten bläst Marina Kremlevskaja den Rauch ihrer Zigarette in das Halbdunkel des "Becherecks". Die 39-jährige Russin ist Chefin der rund um die Uhr geöffneten Kneipe, in der Tageszeiten keine Rolle spielen. Alte Zimmerpflanzen auf den Fenstersimsen verstellen der Mittagssonne den Weg ins verrauchte Innere, das Morgengedeck vieler Gäste ist das gleiche wie am Abend: ein Bier, ein Kurzer.
Marina Kremlevskaja spielt mit Gästen "Mensch ärgere dich nicht", ein Dutzend Männer und zwei Frauen sitzen rund um den Tresen. Einige verbringen in Blaumännern hier ihre Mittagspause, bei anderen ist die Frühschicht gerade vorbei, und ein paar arbeiten schon längst nicht mehr.
Die Gesprächsfetzen der Gäste verraten sofort, wo man ist. "Die hätten uns den Flughafen lassen sollen, wenigstens für Rettungshubschrauber und Bundesfutzis", sagt ein Stammgast. Darauf sein Tresen-Nachbar: "Na wenigstens bleibt die Wetterstation stehen, aber für einen Park ist der Boden viel zu sehr mit Kerosin getränkt." "Na dass du auf nem ehemaligen Flughafen keene Petersilie pflanzen kannst, ist och klar", entgegnet der andere.
Zwischen Flughafen Tempelhof und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Bislang galt das Viertel am Rande des Flugfelds als Armeleutegegend. Menschen aus vielen Nationen leben hier, mehr als 40 Prozent sind arbeitslos, der Kiez hat die höchste Bevölkerungsdichte von Neukölln.
Doch spätestens seit der Stilllegung des Flughafens 2008 ist aus dem innerstädtischen Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Seit Anfang Mai ist die 386 Hektar große Freifläche ein Park; es sollen Gewerbebetriebe entstehen und neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht.
Droht dem Schillerkiez nun also eine Welle von Aufwertung und Mietsteigerungen, wie sie weite Teile von Prenzlauer Berg und Kreuzberg bereits erlebt haben? Sind die Studierenden und Künstler, die seit einiger Zeit ins Viertel strömen, Vorboten einer Entwicklung, die in Friedrichshain und Mitte schon an ihrem Ende angekommen ist? Wird das einstige Arbeiterviertel gentrifiziert - oder wird es bei ein paar Townhouses am Parkrand bleiben?
Sicher ist nur eins: Der Schillerkiez wird sich verändern. Wer davon wie stark profitiert, wird man sehen. Die taz wird diese Veränderungen in den nächsten Jahren beobachten.
Kremlevskaja hat das "Bechereck" vor fünf Jahren übernommen. "Die haben mir hier die Autoreifen aufgestochen, nur weil ich Ausländerin bin", erzählt die blonde Wirtin über ihre Anfangszeit. Doch die kleine, resolute Kneipenfrau hat gelernt, sich durchzusetzen, und hat aus dem alten Stammpublikum inzwischen eine Art Familie gemacht, die sie mit selbstgemachter Gulaschsuppe verwöhnt und bei "doofen Sprüchen" auch mal mit Hausverboten bestraft. Pragmatisch spricht Marina Kremslevskaja über ihr Leben im Kiez: So richtig gehöre sie nicht hierher, eigentlich liebe sie Friedrichshain, wo sie gern ausgehe.
"Aber ich gehe dahin, wo Arbeit ist, und wenn dich der Tresen einmal reingezogen hat, lässt er dich nicht wieder los", sagt die Wirtin, die sich eigentlich ein Leben als Designerin erträumt hatte. In St. Petersburg hat sie Design studiert und in einer eigenen Werbeagentur Plakate für Banken und Unternehmen entworfen. "In den 90er-Jahren wusste niemand, wo es mit Russland hingeht. Die wirtschaftliche Situation war mir zu unsicher", erklärt sie ihren Weggang aus der Heimat. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter, der Mutter und der Schwester kam sie 1996 über ein Immigrationsprogramm für Juden nach Deutschland. Ihr Plan, hier noch einmal an einer Kunst- oder Designschule zu studieren, scheiterte am Geld, als Alleinerziehende konnte sie das Studium nicht finanzieren. "Meine Kunst lebe ich nun hier aus", sagt sie und zeigt über den Tresen. Dort hängen große Kästen mit Collagen aus Flohmarktgeschirr, russischen Holzlöffeln, und auch Matroschkas, die russischen Steckpuppen, fehlen nicht.
Kremlevskaja ist nicht der Typ, der verlorenen Chancen nachtrauert. Sie stecke ihre Kraft und Seele in das, was ist, und das ist die Kneipe und deren Menschen. Punkt. "Die Leute leben mein Leben mit und ich ihres." Sie geht mit den Gästen Pilze suchen, organisiert Picknicke im Umland, im Winter läuft die Kneipencrew Schlittschuhe. Für einen muslimischen Gast hat sie ein Opferfest mit echter Ziege zum Schlachten organisiert, für eine alzheimerkranke Frau malte sie zum 80. Geburtstag deren Hund, da er der Einzige ist, den die alte Frau noch erkennt. Im Gegenzug helfen ihr die Gäste.
Im Februar ist die Laube ihres Kleingartens hinter dem Estrel-Hotel wegen eines falsch eingebauten Kamins abgebrannt. Mit den Gästen zusammen hat sie das Haus wiederaufgebaut, der eine hat ihr Geld geliehen, weil die Versicherung nicht zahlte, der andere Elektroleitungen verlegt, Freundinnen haben sie hinter dem Tresen vertreten.
Doch für ihre 20-jährige Tochter wünscht sie sich ein anderes Leben und deshalb hat die Kneipenverbot: "Sie soll mit der Branche nichts zu tun haben und was Richtiges lernen", sagt die Mutter. Die Tochter wird Innenarchitektur studieren. Einmal im Jahr fliegt die Wirtin mit ihr oder allein in die alte Heimat und kommt dort zu dem, wofür sie in Berlin keine Zeit hat: "Ich gehe dort Tag und Nacht am Fluss spazieren und in die Museen und Theater." Mit ihren jüdischen Wurzeln hat sich die Russin erst in Deutschland auseinandergesetzt, dreimal war sie jetzt schon in Israel. "Ich bin nicht wirklich religiös, aber die Bibelgeschichte interessiert mich", sagt sie.
Die Flugfeld-Öffnung am 8. Mai werden Marina Kremlevskaja und ihre "Bechereck"-Familie nicht mitfeiern, denn an dem Tag wird auch die neue Laube eingeweiht. Die Wirtin hat sich über die Schließung des Flughafens gefreut, aber am Eröffnungstag des Parks würde ihre Kneipe eh nur als Toilette genutzt werden. Deshalb stellt das "Bechereck" seinen Rund-um-die-Uhr-Betrieb ausnahmsweise für einen Tag ein. KATHLEEN FIETZ
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