taz-Serie Ökonomie der Flucht: Die neuen Mangelfächer
Tausende LehrerInnen wurden neu eingestellt, um Flüchtlinge zu unterrichten. Auch private Sprachschulen verdienen gut mit ihren Kursen.
2015 hat sich ihre Schülerzahl verdoppelt. Weber musste das größte ihrer drei Klassenzimmer mit einer Trennwand teilen, um genügend Platz zu haben. Den Zulauf hat sie der örtlichen Realschule zu verdanken. Dort erhalten derzeit 56 Flüchtlingskinder Sprachunterricht. Stellen die Lehrkräfte in der Regelklasse einen zusätzlichen Förderbedarf fest, landen die Kinder bei Webers Institut.
Die Stadt stellt der Familie ein Bildungs- und Teilhabepaket aus und schickt sie zur „Schülerhilfe“, dem einzigen Nachhilfeinstitut in Andernach, einer Kleinstadt bei Koblenz. Abgerechnet wird über das rheinland-pfälzische Familienministerium. 7,80 Euro die Stunde zahlt das Land Weber für jeden Nachhilfeschüler.
Private Nachhilfe- oder Sprachschulen springen ein, wenn Schulen und Volkshochschulen den Bedarf nicht decken können. Oder wenn den Asylsuchenden die Warterei auf den Asylbescheid lang wird. Generell dürfen nur anerkannte Flüchtlinge einen Sprach- oder Integrationskurs besuchen. Seit November stehen die Integrationskurse jedoch auch noch nicht anerkannten Asylsuchenden aus Syrien, Irak, Iran und Eritrea offen. Und zu den zusätzlichen Deutschkursen, die die Bundesagentur für Arbeit eingerichtet hat, haben sich bis Januar 220.000 Asylbewerber angemeldet – doppelt so viele wie angenommen.
Personalmangel bei freien Trägern
Viele dieser Kurse werden – wie die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bezahlten Integrationskurse – von privaten Sprachschulen angeboten. Das Türkisch-Deutsche Zentrum (dtz) in Berlin etwa bietet derzeit 86 Integrations- und 56 Flüchtlingskurse an. „Die Nachfrage ist jetzt sehr hoch“, sagt Ayla Ertürk, Leiterin der dtz-Bildung & Qualifizierung gGmbH. „Wir haben mindestens 40 oder 50 Prozent mehr Schüler als vor einem Jahr“. Ertürk musste viele neue DozentInnen einstellen.
Von den Flüchtlingen profitieren letztlich vor allem die LehrerInnen. Wenn auch unterschiedlich stark. Private Sprachschulen wie die dtz stellen teils Studierende gegen einen Stundenlohn von 20 Euro ein. An den Volkshochschulen, die bundesweit Hauptanbieter von Erstsprach- und Integrationskursen sind, bekommen DozentInnen in der Regel 30 Euro.
Am lukrativsten ist die Bezahlung an den Schulen. Viele Lehrkräfte wechseln dorthin – das sorgt für Personalmangel bei den freien Trägern und den Volkshochschulen. Sprachschulleiterin Ertürk findet für die Integrationskurse mit ihren hohen Stellenanforderungen kaum LehrerInnen. Und der Deutsche Volkshochschul-Verband warnte bereits im November, für 2016 nicht genügend Lehrpersonal zu haben. Die Volkshochschulen gehen davon aus, dass sich der Bedarf in diesem Jahr verdoppeln wird – auf 370.000 bis 400.000 KursteilnehmerInnen. Das Bamf hat bereits die Anforderungen für Sprachlehrkräfte herabgesetzt. Auch ÜbersetzerInnen oder SozialpädagogInnen dürfen nun unterrichten.
Auch an den Schulen gibt es derzeit jede Menge Einstellungen. In Bayern wurden für dieses Jahr fast 1700 Stellen für Übergangs-, Deutschförder- und Berufsintegrationsklassen geschaffen. In Nordrhein-Westfalen sind es im vergangenen und diesem Jahr 5.766 Stellen. Zusätzlich werden 1.200 LehrerInnen mit der Ausbildung „Deutsch als Zweitsprache“ angestellt. Nach taz-Recherchen wurden für das laufende Schul- oder Kalenderjahr bundesweit rund 10.000 neue Lehrer eingestellt. In manchen Ländern wie in Niedersachsen unterrichten auch Pensionäre.
Wie beeinflusst die Migration die Wirtschaft in Deutschland? Sorgen Flüchtlinge für mehr Wachstum? In der taz-Serie Ökonomie der Flucht sehen wir uns an, welche Folgen die Zuwanderung für verschiedene Wirtschaftsbranchen hat. Teil 3.
Soweit ist es in Andernach noch nicht. Was die Schule nicht abdeckt, leistet Ines Webers Schülerhilfe. Es klingt nach einer Win-Situation für alle Seiten. Die Flüchtlingskinder werden noch gezielter gefördert. Die Realschule lässt das Land dafür bezahlen, dass ihre SchülerInnen schneller im Unterricht mitkommen – und die „Schülerhilfe“ kann weiter wachsen. Als Dank hat sie jedem Flüchtlingskind an der Realschule ein Wörterbuch in seiner Herkunftssprache geschenkt. Eine ähnliche Kooperation plant Institutsleiterin Ines Weber auch in Koblenz und Neuwied: „Wir sind erst am Anfang“.
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