taz-Publikumspreis beim Open Mike 2014: Feierabend
„Morgen bin ich tot“ – „Das hättest du gerne“: der Text des Gewinners des taz-Publikumspreises beim Open Mike 2014.
Manche Leben haben Überlänge. Besser werden sie dadurch nicht. Nur teurer.“ Günni zieht den roten Faden der Klospülung und beobachtet, wie Lev seinen Kulturbeutel ordnet.
„Du meinst wie Kinofilme?“, fragt Lev, geht auf ihn zu und hebt Günni von der Kloschüssel.
„Ja, Kurt Cobain zum Beispiel. Er hat es richtig gemacht und einen grandiosen Kurzfilm abgeliefert. Kawumm mit siebenundzwanzig. Ich werde zweiundsiebzig.“
„Hast dich gut gehalten.“
Es ist längst Tradition. Beim Open Mike - dem Vorlesewettbewerb für den deutschsprachigen literarischen Nachwuchs in Berlin - betreut die taz eine Publikumsjury: fünf im Idealfall interessierte, mit dem Literaturbetrieb jetzt nicht groß verbandelte Leserinnen und Leser, die sich zwei Tage lang alle teilnehmenden Autorinnen und Autoren anhören und sich dann darauf einigen, welcher Text ihnen am besten gefallen hat. Dem geben sie den Publikumspreis. Er ist damit verbunden, dass die taz den Text abdruckt. Voilà. Auf diesen Seiten können Sie den Arbeitsalltag des 22-jährigen Lev in einem Hospiz begleiten und sich in diesem Publikumspreistext 2014 mit ihm schließlich die Frage stellen, ob das wirklich schon alles ist.
Gerasimos Bekas, der Autor, wurde 1987 in Ostwestfalen geboren, aufgewachsen ist er in Griechenland und in Franken. Er studierte Politikwissenschaft in Bamberg und lebt als Autor und Theatermacher in Berlin und Athen. 2012 war er Mitgründer des deutsch-griechischen Theaterensembles ithAKT, Aufführung von "Migronauten" 2013/2014.
2013 gewann er beim Festival "Radikal Büchner" von ZDF Kultur und Bauhaus Dessau. Seit 2014 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie des Schreibens. Außerdem ist er Mitglied des Festivalteams von Voicing Resistance im Studio R des Maxim Gorki Theaters in Berlin.
Nach der Lesung beim Open Mike wurde vor allem viel über die Szene diskutiert, in der Lev träumt, am Fließband zu stehen: Alte fahren vorbei, sie werden abgeduscht, eine Falltür öffnet sich und schließt sich wieder, und "anstelle der Alten fährt ein Teelicht auf dem Fließband weiter". Vielleicht kann man bald mehr von Lev, Günni, Boss oder Derya lesen. Der Text "Feierabend" ist, so Gerasimos Bekas, ein Auszug aus einem längeren Werk.
„Halt die Fresse. Siehst du, wie faltig mein Arsch ist? Sogar mein Arsch? Und meine Hände. Ich kann mir nicht mal einen runterholen. Wer keine Kohle hat, um als gelifteter Greis auf Viagra zu enden, mit blonden Botox-Schlampen auf dem Schoß, wozu soll der alt werden? Wie alt bist du?“
„Zweiundzwanzig.“
„Na, da hast du noch fünf Jahre.“
„Bei Britney Spears wäre siebenundzwanzig schon zu spät gewesen.“
„Kenn ich nicht. Nicht so fest mit dem Scheißökopapier.“
Sorry, Günni. Rasieren?“
„Geh ich auf eine Hochzeit? Beim Flaschensammeln helfen meine Stoppeln. Sag mal, hast du was zum Rauchen da?“
„Morgen, ich mach jetzt Schluss.“
„Morgen bin ich tot.“
„Das hättest du gerne, Günni. Ich wasch dich morgen früh, dann rasiere ich dich und dann ziehen wir einen durch.“
Lev macht Günni eine Schleife an den Bund der Jogginghose.
„Hau ab, du Penner.“ Günni bringt ihn in langsamen Schritten zur Tür und gibt ihm einen Klaps auf den Hintern.
Lev schaut, dass er unbemerkt in die Umkleide kommt, er will heute kein weinerliches „Herr Doktor, helfen Sie mir!“ hören, kein „Kannst du schnell noch, bevor du gehst …“ von der Stationsleitung. Günni ist ein guter Abschluss nach all den Scheintoten, die an einem Tag zusammenkommen.
Das Sterben selbst ist öde, wenn man sich nicht erschießt. Es dauert ewig und immer, wenn man denkt, das war jetzt das letzte Röcheln, kommt noch ein Schnarcher hinterher oder ein Klacklaut aus der Kehle. Manchmal gehen die Augen auf und die Vitalfunktionen sind wieder in Ordnung. Das kann Stunden dauern und der Rest der Arbeit bleibt liegen. Es ist angeblich pietätlos, schon mal die Schränke zu räumen und die Sachen zu packen, bevor jemand gestorben ist. Dabei wäre das mal ein sinnvoller Ansatz des Qualitätsmanagements. Es ist ja nicht so, als ob man mit dem Tod nicht rechnen könnte.
Für Angehörige ist das Warten die Hölle. Wie mit diesen Leuten auf Partys, die sich immer wieder verabschieden und dann doch nicht gehen. Für Lev ist es einfach nur langweilig. Er hat nichts gegen die Sterbenden. Gut, die meisten waren mal Nazis, und wer sich einen Platz in dem Hospiz, für das er arbeitet, leisten kann, hat bestimmt Dreck am Stecken. Die Kosten für die Unterbringung selbst trägt die Kasse, aber die Warteliste ist lang. Wenn man eine Spende drauflegt, geht es schneller.
Zeit kann man nicht kaufen, wenn man im Sterben liegt, also kauft man sich einen Platz, um es zu Ende zu bringen. Mit Blick auf die Weinberge. Und terracottagelbe Wände. Wärme und Freundlichkeit auf den letzten Schritten des Weges.
Wenn Lev die Nachmittagsschicht hat, ist er großzügig mit den Sedativa, dann gibt es kein Hin und Her und es sieht netter aus, wenn die Leute entschlafen. Nachts ist das egal. Da ist Lev meist allein mit den Todgeweihten. Er ist dankbar für jeden polnischen Abgang. Augen zu und gut ist.
Die Patienten, Lev soll sie Klienten nennen, denen die Demenz das Gehirn noch nicht völlig zerschossen hat, labern zu jeder Tageszeit. In zermürbender Langsamkeit, so schnell es eben geht mit einem Lungenflügel oder nach der dritten Chemo, aber sie labern. Das muss man sich dann wochenlang anhören und nicken und lächeln, obwohl man nichts versteht, wie in der Disko. Sie erzählen vom Krieg, von ihren unerfüllten Lieben und Träumen, von ihren Fehlern. Die ganze Zeit reiten sie auf irgendeinem Fehler herum, für den sie nach dem Tod bezahlen müssen. „Die hoffen auf Rabatt oder mildernde Umstände, wenn sie nur oft genug bereuen, was sie verkackt haben“, hat Günni mal gesagt.
Lev zieht manchmal die Augenbrauen hoch, wenn er sich die Geschichten anhört, aber nicht so, dass die Leute es mitbekommen. Er rollt nie mit den Augen. Seine Chefin Gitte macht das und dann schaut sie ihn an, zuckt mit den Schultern und macht die Scheibenwischergeste. Die landet hier auch bald. Von verbittert und schrumpelig zu schrumpelig und tot kann es ganz schnell gehen.
Alt zu sein ist eine einzige Katastrophe. Mit künstlichem Darmausgang, Rheuma und Freiheitsrechten wie in Guantánamo macht das Aufstehen nicht mehr so viel Spaß. Das Hospiz St. Gangolf wurde in den Neunzigern gegründet, um Menschen zu erlauben, in Würde zu sterben. Ehrlich und geborgen. Im Kreis von Angehörigen und kompetenten Trauerbegleitern.
Manchmal träumt Lev, dass er am Fließband steht. Die Alten fahren an ihm vorbei. Er drückt auf einen Knopf, sie werden abgeduscht. Ein weiterer Knopfdruck und sie bekommen eine Infusion. Er zieht einen Hebel, unter ihnen öffnet sich eine Falltür. Die Falltür schließt und anstelle der Alten fährt ein Teelicht auf dem Fließband weiter.
Im Hospiz hat Lev gelernt, wie die Welt funktioniert und was Leben bedeutet.
Entweder ein Mensch ist dumm genug, um sich glücklich zu fühlen, oder stumpf genug, sich Ignoranz zu leisten. Alles andere ist eine Qual. Vor allem, wenn man den richtigen Zeitpunkt für den Abgang verpasst. Es gibt ein Methadonprogramm. Wenn man glaubt, das Richtige zu tun, auch wenn es aussichtslos ist, lässt sich das Leben ertragen.
„Aussichtslos ist fast alles, was man anpackt. Das liegt am einzigen natürlichen Feind des Menschen, dem Menschen selbst“, hat Herr Ludwig gesagt und der muss es wissen, denn er ist Professor für Philosophie und Ehrenbürger. Herr Ludwig hat seinen Abgang in mühevoller Kleinarbeit mit Silvaner vorbereitet. Seine Leber hat das erstaunlich lange ausgehalten. Für jemanden, der nicht mehr lange zu leben hat, sieht er verdammt gelassen aus. Er liegt auf der Wachstation, erst war er Günnis Zimmergenosse. Herr Ludwig ist einer von den Guten. Sein Vater hat Juden versteckt. Drei Stück. Die Welt ist ungerecht. Auf der ganzen Welt entwürdigen Menschen andere Menschen. Seit Jahrtausenden. Man kann das nicht ignorieren, solange die Welt so läuft. Außer man ist dumm oder stumpf genug. Oder ein Überzeugungstäter. Wie Schwester Hiltrud. Lev hat sie bis gestern betreut, sie war siebenundneunzig Jahre alt und hat ihr ganzes Leben Afrikaner missioniert. Die wollte nicht aufhören und hat ihm noch an ihrem Todestag Briefe diktiert. Als ob die Leute in Afrika keine anderen Probleme hätten. Bibelzitate und Durchhalteparolen. Ein Brief klang kitschiger als der andere. Lev nahm einige inhaltliche Korrekturen vor, was gar nicht so leicht war, bei seinen Englischkenntnissen. Jeder der vierzehn Briefe, die er für sie schrieb, endete mit denselben Worten. And don’t forget who fucked your future. Stand up for your rights! With best wishes Sister Hiltrud. Auf den Umschlag ihres letzten Briefes schrieb Lev: This is the last letter from Sister Hiltrud. She is in heaven now, or in hell. At least she is fucking dead.
Er hat ihn noch eine Nacht liegen lassen, weil er nicht sicher war, ob er die kleinen Kinder mit den Kulleraugen, die er beim Schreiben der Briefe immer vor sich sah, traumatisieren könnte. Er kann.
Lev hat sich hastig umgezogen, das Hospiz verlassen und hält die Post in den Händen. Der nächste Briefkasten liegt auf dem Weg zum Mainufer, wo sein Kumpel Boss mit einem Kasten Bier auf ihn wartet. Boss hängt durch in letzter Zeit. Seine Eltern sind unterwegs, und wenn keiner ihm drohend über die Schulter blickt, lässt er sich gehen. Er rasiert sich nicht, sitzt Stunden vor dem Fernseher oder der Spielkonsole und schreibt wirklich schlechte Songtexte, die er mit seiner Gitarre begleitet. Vor allem, wenn er bekifft ist und den Jim Morrison in sich zu entdecken glaubt.
Lev findet ihn auf der bröckelnden Backsteinmauer am Kai sitzend, die Gitarre in der Hand, den Blick auf die Leute am gegenüberliegenden Ufer gerichtet, die sich, so hat Boss es in sein rotes Büchlein notiert, „wie Ameisen ihren Weg durch die von Grillvolk belagerte Wiese bahnen“. Er legt die Gitarre beiseite. Lev erzählt von seinem Tag. Boss von seiner Selbstfindungsphase, in der er sich seit dem Abitur befindet. Bei Lev heißt das Totenstarre, bei Derya Deutschenproblem.
Sie überrascht Lev und Boss von hinten, quetscht sich zwischen sie auf die Mauer und nimmt ihre Sonnenbrille ab, um damit ihre Bierflasche zu öffnen. „Original Türkisch Ray Ban“, verkündet sie dabei, prostet in die Luft und holt unter ihrem Kopftuch eine selbstgedrehte Zigarette hervor. Boss gibt ihr Feuer. Er ist der Einzige, der ihr Feuer geben darf. Im Sinne der türkisch-griechischen Freundschaft. Sie ist die Einzige, die etwas mit Boss’ Liedermacherversuchen anfangen kann. Sie findet sie lustig, was für Boss besser klingt als scheiße. Nur findet Derya alles lustig. Oder süß. Die alte Frau zum Beispiel, die unter den Augen der drei ihren Mann am Alten Hafen im Rollstuhl spazieren fährt. Hin und her. Sie kamen etwa zeitgleich mit Derya.
Die alte Frau ist zierlich und ihr Mann wirkt schon im Sitzen wie ein Walross mit Koteletten und gezwirbelten Bart. Seine Frau muss sich mit aller Kraft gegen den Rollstuhl stemmen, um zu wenden. Alle fünfzig Meter tut sie das. Heute ist nicht viel los auf der Uferpromenade, weil sich alle gegenüber im Gras sonnen. So muss sie nicht auch noch Radfahrern oder Skatern ausweichen. Man sieht den Schweiß auf ihrer Stirn glänzen.
„Das sind noch Beziehungen, das ist noch Liebe. Meine Großeltern sind auch so.“ Derya klopft den Jungs auf die Oberschenkel.
„Ach ja? Dein Opa ist also ein fetter Sack, der brüllt: ’Bist du noch ganz sauber? Dreh mich um, ich sehe die Festung nimmer?‘“
„Lev hat recht. Der Typ ist ein Tyrann. Seine Frau schiebt ihn gleich in den Main.“
„Macht mir nicht immer alles kaputt. Überhaupt, was geht heute mit dir, Boss? Du hast morgen Geburtstag, guck nicht so grimmig.“ Derya zieht an dem Stummel, der von ihrer Zigarette übrig geblieben ist. Sie hält ihn zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, wie sie es sich mit dreizehn angewöhnt hat. Die Sonne ist kaum noch zu sehen. Der Himmel über ihr leuchtet rot.
„Morgen wird ein schöner Tag“, seufzt Derya, „und ich habe zwei Klausuren.“
„Es gibt Leute, die arbeiten“, raunt Boss.
„Das sagt der Richtige. Als ob du schon mal gearbeitet hättest, Mister Beamtenkind. Geh Kuchen backen, ich werde hungrig sein.“
Der Proletarier in Boss, der eigentlich Charalambos heißt, lässt seine leere grüne Bierflasche hinter sich an der Wand zersplittern und geht.
„Da ist Pfand drauf, du Depp. Der Günni sammelt doch!“, ruft Derya ihm hinterher. Boss steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert, ohne sich noch einmal umzudrehen, Richtung Brücke.
Lev öffnet seine dritte Flasche mit Deryas Feuerzeug.
„Paula hat gestern Schluss gemacht, darum ist er so drauf.“
„Schon wieder? Wieso sagst du das nicht eher? Ich hätte ihn nicht so angefuckt.“
„Als ob du auf so was Rücksicht nehmen würdest“, spottet er und nimmt noch einen großen Schluck.
„Ich konnte sie nie leiden.“
„Sie hat gesagt, sie will nicht länger mit einem Fisch zusammen sein.“
„Schlampe. Was soll das heißen? Auch noch vor seinem Geburtstag. Was schenkst du ihm?“
„Einen unvergesslichen Abend.“
„Geht ihr in den Puff?“
„Besser. Viel besser.“
„Da, Lev, dein Handy klingelt.“
„Kein Bock.“
„Bier?“
„Hab noch.“
„Ficken?“
„Nur, wenn du das Tuch anbehältst.“
Das Handy vibriert wieder. Derya nimmt es, kurz bevor es vor lauter Vibrationsalarm von der Mauer fällt, und geht ran.
„Hallo, die heiße Helga am Apparat. Wie kann ich dich … Was? Oh!“
„Was?“ Lev verzieht das Gesicht und streckt die Hand nach dem Telefon aus.
Derya gibt es ihm.
Lev spricht polnisch, wird laut, legt auf.
„Warum hat deine Mutter geweint?“
Lev sieht sie nicht an, er blickt auf das Wasser.
Er nimmt sich noch ein Bier und steht auf.
„Den Kasten holt Günni später“, sagt er und taumelt mit der Flasche in Richtung Ufer.
„Sag mal, was los ist!“
„Meine Beine sind eingeschlafen.“
„Lev! Alter!“
„Was, wenn das hier alles ist?“
„Du weißt, dass es nicht alles ist.“
„Lass die Märchen, ich habe Feierabend.“
Lev entfernt sich und sieht Derya nicht mehr grinsen.
„Ach ja, das Geschenk ist da!“, ruft er, ohne sich umzudrehen.
Jetzt grinst er auch.
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