Autounfälle: Das Tötungsprivileg
Bei Unfällen zwischen Autofahrern und Fußgängern oder Radfahrern ist die Ursache bekannt: Es ist das Auto. Wie können wir die tödliche Waffe entschärfen?
D rei Kinder bei „Verkehrsunfällen“ (Tagesspiegel) schwer verletzt, war die ganz normale Nachricht aus dem Berliner Verkehr vom Mittwoch. Alle drei Kinder beziehungsweise die sie betreuenden Personen werden in der Berichterstattung zu zumindest Mitschuldigen erklärt.
Im ersten Fall sei „plötzlich“ (nach Polizeibericht) ein neunjähriger Junge zwischen geparkten Autos hervor auf die Fahrbahn getreten und von einem Transporter angefahren worden. Im zweiten Fall wurden zwei Mädchen verletzt, als sie mit ihrem Vater eine breite Fahrbahn am Alexanderplatz überqueren wollten. Der Vater hatte sich „trotz der Dunkelheit“ gegen die Benutzung der „Fußgängerampel an der etwa 100 Meter entfernten Kreuzung“ entschieden.
Dass sich Fußgänger und Radfahrer nicht an die Verkehrs-Regeln halten, ist offensichtlich. Selbst als nur gelegentlicher Autofahrer ist man ständig mit solchen Verstößen konfrontiert. Als in der Berliner Innenstadt Wohnender ist sogar der Eindruck, dass die von fleißigen Fahrradstreifen verkörperte Regelungsbehörde ihren Schwerpunkt auf solche Verstöße gelegt hat: Während etwa direkt vor der Polizeiwache in taz-Nähe abgehaltene Beschleunigungswettbewerbe von Autos als offensichtlich vernachlässigbar hingenommen werden.
Ein Konflikt mit ungleichen Waffen
Wenn wir uns darauf verständigen können, dass Verkehr – das Wort bezeichnet ursprünglich den „kaufmännischen verkehr, umsatz, vertrieb von waaren“ (Grimmsches Wörterbuch) – die Idee eines zivilen Austausches, eines Aushandelns von Interessen, eben von Gleichberechtigung beinhaltet: Dann müssen wir sagen, dass das, was sich inzwischen auf den Straßen abspielt, mit dieser Intention nichts mehr zu tun hat. Es ist vielmehr ein Konflikt mit ungleichen Waffen: Geschwindigkeit, Masse und Platz.
Und dieser Konflikt verschärft sich nicht nur deswegen, weil die eine Seite – die der Radfahrer und Fußgänger – mehr Raum einfordert und – Stichwort E-Bike – schneller geworden ist: Die 39-jährige Frau und ihre beiden Kinder im Alter von drei und sechs Jahren, die am 22. Oktober von einem Autofahrer in Esslingen getötet wurden, hatten nichts falsch gemacht – und trotzdem keine Chance.
„Aus noch ungeklärter Ursache“ geriet der 54-jährige Autofahrer mit seinem SUV auf den Gehweg. Dort kam es zur Kollision mit der Mutter und ihren zwei Kindern. „Die genaue Unfallursache wird weiter untersucht.“
Das Auto ist die Ursache
Dabei steht die Ursache natürlich längst fest: Es ist das Auto selbst. Es gibt keine guten Autofahrer. Jeder, der sich ans Steuer setzt, ist überfordert mit der Kontrolle des Gewaltpotenzials des Geräts, das er meint zu beherrschen, wie ein Neunjähriger die Algorithmen von Tiktok.
Das Problem sind eben nicht die Extremfälle – wie jener Verkehrsteilnehmer, der diese Woche die Mauer zum Gartendenkmal Engelbecken im Berliner Bezirk Mitte an der Grenze zu Kreuzberg durchbrochen hat (siehe Bilder auf dieser Seite). Das Problem sind du und ich. Wir sind der Sache nicht gewachsen.
Das Tötungsprivileg von Autofahrern mag man so lange tolerieren, als sie sich im Wesentlichen untereinander in Gefahr begeben: auf Autostraßen und Autobahnen also. Auf allen Wegen, an denen tatsächlich Verkehr mit schwächeren Verkehrsteilnehmern stattfinden soll, aber gibt es nur eine Möglichkeit, das Gemetzel zu beenden.
Eine asoziale Ansammlung von Individuen
Wer auf den unbestrittenen Komfort und die Sicherheit einer Autofahrt nicht verzichten will, muss das mit von außen bestimmter Geschwindigkeit tun – ob Tempo 30 oder (ein dann tatsächlich eingehaltenes) 50, ist erst mal zweitrangig. Solange die Polizei damit überfordert ist oder kein Interesse daran hat, muss eine technische Lösung angestrebt werden.
Das Gebot der Stunde ist also nicht-autonomes Fahren. Denn autonomes Fahren ist ohnehin eine Täuschung: „Autofahren ist keine autonome Tätigkeit. Es ist eine kooperative, soziale Tätigkeit, bei der die Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern zu den Aufgaben des Fahrers am Steuer gehört.“ (Rebecca Solnit: „In the Shadow of Silicon Valley“).
Autos sind Waffen. Waffen haben ihren Wert. Aber eine Gesellschaft, die den völlig ungenügend geregelten Gebrauch dieser Waffen nicht in den Griff bekommt, ist keine. Sie ist eine asoziale Ansammlung von Individuen, in denen der Stärkste sich durchsetzt und in der die Schwächsten fortdauernd und willentlich geopfert werden. Und niemand darf sich wundern, wenn die Opfer und ihre Angehörigen das nicht länger hinnehmen.
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