szene:
Wer von Ihnen sieht den Film heute zum ersten Mal?“, fragt der Kinobetreiber in einem einleitenden Vorwort. Ich hebe die Hand und die ältere Dame neben mir lächelt mich wohlwollend an: „Ich freue mich für Sie. Beim ersten Mal ist es immer besonders schön. Ich habe den Film bestimmt schon“, sie zählt mit den Fingern, „sechs oder sieben Mal gesehen. 1957 war ich drei und Sie“, sagt sie und mustert mich prüfend: „noch lang nicht geboren.“
Ich nicke entschuldigend und gestehe, erst nach dem Mauerfall auf die Welt losgelassen worden zu sein. „Eigentlich“, sagt die alte Dame und redet ungerührt weiter, „gibt’s das ja gar nicht: Berlin – Ecke Schönhäuser. Eigentlich ist das Berlin, Ecke Eberswalder.“ Ingrid, meine Sitznachbarin – mittlerweile sind wir per Du – wohnt immer noch im selben Hinterhof in der Kopenhagener Straße wie in ihrer Kindheit. Für beneidenswerte zweihundert Euro Miete im Monat. „Das gibt‘s ja heute gar nicht mehr. Was zahlst du?“, fragt Ingrid und nickt betroffen, als ich „das Vierfache“ antworte. „Neukölln“, wiederholt Ingrid und schüttelt den Kopf. „Da bin ich nie.“ Eine Schweigeminute für mein Schicksal, dann leuchten ihre Augen wieder: „Warste denn schon mal bei ‚Konnopke‘?“
Ich enttäusche Ingrid nach Alter und Wohnort ein drittes Mal und gebe mich als Vegetarierin zu erkennen. Ingrid verzieht den Mund und beäugt mich eingehend: „Bist auch ein bisschen blass.“ Vorn stammelt der Kinobetreiber unzusammenhängend, leider habe er nämlich seine Notizen zu Hause liegen lassen: „Wolfgang Kohlhaase konnte zeigen, wie Hinterhöfe riechen, aber leider sind alle am Film Beteiligten inzwischen verstorben und man kann mit niemandem mehr sprechen. Aber jetzt erst mal viel Spaß beim Film.“ „Ihnen auch“, ruft Ingrid feixend, „und bleiben Sie am Leben!“
Marielle Kreienborg
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