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szeneMein Graf von Monte Christo

Was für ein Zufall! Mitten auf der Oranienstraße begegne ich Tim. Nassgeschwitzt wuchtet er einen schweren Sessel über den Bürgersteig. Tim habe ich seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Freudig begrüßen wir uns, dann packe ich mit an. Das Möbelstück hat er spontan bei Kleinanzeigen geschossen und so schnell keinen Helfer gefunden.

„Das erinnert mich an Paris!“, keuche ich im Hausflur. Damals war Tim im Erasmusjahr und brauchte ein paar seiner Sachen. Ein Freund von mir studierte mit ihm in Heidelberg. So kam der Kontakt zustande. Wir mieteten einen Sprinter und fuhren in die französische Hauptstadt. Auch da war ein Hausflur, und ich erinnere mich an viele schwere Möbel. Nach getaner Arbeit verbrachten wir noch ein paar Tage dort. Ich denke zurück, wie wir mit Fahrrädern die ganze Stadt erkundeten, Louvre, Eiffelturm, Notre Dame. In Marais hatte ich das beste Falafel-Sandwich meines Lebens. Dreimal. Ich weiß noch, wie ich „Der Graf von Monte Christo“ dabei hatte, in Paris – dort spielt der Text ja zu großen Teilen. Morgens beim Kaffee las ich ein, zwei Kapitel, nachmittags spazierte ich an denselben Orten entlang. Leider habe ich das Buch dann irgendwo verloren und nie zu Ende gelesen. Oft habe ich mir vorgenommen, das nachzuholen. Aber das ist so ein dicker Schinken, entsprechend teuer ist er und wie in aller Welt finde ich die Seite wieder, wo ich war…

Tims Wohnung ist geschmackvoll: Designerlampen, Orientteppich, restaurierte DDR-Vitrinen. Der Sessel fügt sich perfekt ein. Er steht neben dem Bücherregal, das meine Aufmerksamkeit erregt. Mich trifft der Schlag: Da ist doch mein „Graf von Monte Christo“! Ich greife nach dem blauen Taschenbuch und schlage es auf. Da ist sogar noch ein Lesezeichen drin, ein kleiner Zettel, vom Briefkopf meiner alten Uni. Tim kann es auch nicht glauben. Was für ein Zufall! Lars Widmann

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