szene: Das rote Licht der Erdbeere
Tram M4 Richtung Berlin-Alexanderplatz. Ich sitze am Fenster, auf dem 4er Sitz neben mir zwei Kinder und ihre Eltern. Die Kinder strahlen, sie haben eine durchsichtige Kunststoffbox auf den Knien, bis zum Rand gefüllt mit Gummifrüchten. Sie greifen zu, mit feierlicher Geste: „Here we go again“, ruft ein Kind und schmeißt die Arme in die Luft, „a strawberry!“ Es trägt eine weiße Mütze. Fröhlich strahlend zeigt das Kind die Erdbeere seinem wenig älteren Geschwister, den Eltern, und mit einem Happs ist die Gummifrucht verschwunden.
Die Bahn ruckelt zum Volkspark Friedrichshain hinunter. Es riecht nach Herbst und Untermützenschweiß. Das zweite Kind angelt eine zweite Erdbeere aus der Dose. Es hält seine Beute zwischen Daumen und Zeigefinger. Dreht sie ins Licht. Rotes Licht fällt auf die Kinderfinger, und ich meine, es tüncht die Bahn ein wenig.
Mit der Anmut eines Gourmets verschlingt das Kind seine Gummifrucht, während ein paar Sitze weiter eine junge Frau sitzt, mit Kopfhörern und eng gefurchter Stirn. Sie scrollt sich durch irgendeinen Newsfeed. Hat Trump wieder was gesagt? Haben wir einen neuen Kipppunkt gerissen? Ihr Blick klebt am Screen wie die Finger der Kinder an ihrer Box.
Ich höre Lachen und sehe eine dritte Gummibeere. Grüne Gummiblättchen, roter Fruchtkörper. Die Bahn quietscht um eine Kurve. Draußen entkommt ein Fahrradfahrer nur knapp einem zu schnell fahrenden Auto. Blaulicht rauscht vorbei. Für die Kinder zählt das nichts. Ich schaue auf die Frau am Handy. Sie scrollt. Ich sehe nach draußen. Der Alexanderplatz ist grau und voller Nieselfäden. Die Kinder teilen sich die Frucht. Und ich stelle fest, dass ich auch gern eine hätte. Eine Gummifrucht, die alles rot färbt und nach Erdbeere schmeckt. Eine, die für einen Moment alles gut macht.
Klaus Esterluss
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen