szene: Wasabi am frühen Morgen
Das Ehepaar ist seit Kurzem in Rente. Noch wissen sie nicht, was sie mit der vielen Freizeit machen sollen. Erst mal zu den Kindern nach Berlin. Berlin-Tiergarten. So schlecht kann die Luft da nicht sein, sie haben Zeit mitgebracht. Die Kinder haben gleich erklärt, dass sie morgens vor der Arbeit nicht frühstücken, aber das vietnamesische Café an der Ecke können sie empfehlen.
Der Mann ist enttäuscht, er hatte sich lebhaftes morgendliches Küchenpalaver vorgestellt. Auch die Begrüßung im Café entspricht nicht seinen Vorstellungen.
„Want menu?“ – die Frage ist nur durch den Fingerzeig Richtung Speisekarte zu verstehen, und das liegt nicht an den Hörgeräten. Seine Frau sucht vergeblich einen Garderobenhaken. Immerhin findet sie einen freien Tisch und deponiert demonstrativ mühsam ihren Mantel auf einem Hocker.
Der Mann hat inzwischen bestellt, nur für sich. Ihre beleidigte Flunsch kümmert ihn nicht. Sie wisse genau, dass er schlechte Laune bekommt, wenn er nicht bis neun etwas zwischen die Kiemen kriegt. Als müsse sie sich vor Unannehmlichkeiten schützen, buchstabiert sie Zeile für Zeile der Karte. Schließlich bestellt sie am Tresen, und jetzt dreht sich die Stimmung.
Der Mann bekommt sein Frühstück, aber der Kaffee lässt auf sich warten. Unprofessionell, schimpft er. Ihr Teller folgt sofort, als hätte die vietnamesische Bedienung geahnt, worauf es hinausläuft: Egg-Avocado-Toast. Das Essen sieht ansprechend aus, mit farbigen Pasten und vielen Kräutern garniert. Erst mal schickt die Frau ein Foto in ihren Freundeskreis, dann genießt sie. „Viel besser als so ein blasses Käsebrötchen vom Bäcker.“
Erste Chat-Reaktionen von zu Hause treffen ein. „Seid ihr sicher, dass so was bekömmlich ist? So früh am Morgen?“ Jetzt endlich ist das Ehepaar sich wieder einig. „Die sind soo spießig.“
Claudia Ingenhoven
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