szene: Ich wollte Sie nur warnen
Der Herbst ist da, und mit ihm kehrt die sibirische Kältepeitsche zurück. Es windet stark. Ich vergrabe meine Hände in den Hosentaschen, den Hals im Kragen meiner Jacke. Meine Augen tränen, während ich mir meinen Weg durch Berlin-Neukölln bahne. Ich muss zum Ostkreuz. Dafür nehme ich den M43 ab Erkstraße. In diese Richtung klappt das für gewöhnlich gut, alle paar Minuten kommt ein Bus. Doch jetzt beginnt die Rushhour, die Straßen füllen sich, die Digitalanzeige an der Haltestelle ruft zu Geduld auf. Also zücke ich mein Handy, ich prüfe, welcher Podcast mich am wenigsten langweilen könnte, da knallt es plötzlich. Vor meinen Füßen ist ein Stein aufgekommen. Entgeistert blicke ich mich um: Wo kam denn der auf einmal her? Ich spähe nach links, nach rechts, gucke nach gegenüber auf die andere Straßenseite. Wer war das?
„Das ist’ne Krähe.“ Eine Frau steht plötzlich vor mir. Sie trägt einen Fahrradhelm und eine gelbe Weste. „Wie bitte?“ „Da oben sitzt’ne Krähe.“
Ich trete von der Hausfassade weg, um einen besseren Winkel zu haben. Jetzt kann ich das Dach sehen, und tatsächlich: Da oben erkenne ich einen kleinen Krähenkopf. Er verschwindet wieder, taucht erneut auf, diesmal mit einem Stein im Schnabel. Ich meine, sie zielen zu sehen. Ein kastaniengroßer Stein fällt herab, pfeilschnell. Er schlägt auf dem Bürgersteig auf, hüpft noch mal hoch.
„Die wirft mit Steinen.“ „Tragen Sie deshalb den Helm?“ „Nö, ich hol mein Fahrrad.“ „Weiß das jemand? Das ist doch gefährlich.“ „Keine Ahnung, ob die da oben das wissen. Geht seit Tagen schon so. Irgendwas passt ihr nicht.“
Mein Bus kommt und ich bin erst mal in Sicherheit. Zugegeben: Diese Geschichte hat keine große Pointe. Aber falls Sie zum Ostkreuz müssen und den M43 ab Erkstraße nehmen wollen – ich wollte Sie nur warnen.
Lars Widmann
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