streit um zuwanderung: Nicht die Grünen spinnen
Nur noch vier Prozent. Der Schock sitzt tief. Da können die Grünen noch so locker von einer „Momentaufnahme“ reden und auf andere, angeblich bessere Umfragen verweisen – es hört sich an wie das Pfeifen im dunklen Walde. Denn spätestens seit dem Politbarometer vom Freitag ist klar: Bei der Bundestagswahl im September geht es für die Grünen ums nackte Überleben.
Kommentar von LUKAS WALLRAFF
Was das bedeutet, bekommen die Grünen schon jetzt überdeutlich vorgeführt: Wer bei den Demoskopen unter die Fünfprozenthürde rutscht, wird als Machtfaktor nicht mehr ernst genommen. Die großen Volksparteien tun schon jetzt so, als seien die Grünen nicht mehr da. Ohne jede Rücksicht auf den kleinen Koalitionspartner rückt die SPD beim Zuwanderungsgesetz nach rechts. Die Union freut sich, reagiert mit neuer Konsensbereitschaft und erklärt die Grünen zur vernachlässigbaren Größe.
Schlimm für die Grünen ist nicht die Häme der Union, sondern dass sie von ihrem Koalitionspartner SPD so gedemütigt werden. Nicht einmal mitreden sollen sie dürfen, wenn es um die Verhandlungen mit der CDUgeht, findet SPD-Fraktionsvize Stiegler. Zu viele Köche verdürben nur den Brei. Um das Zuwanderungsgesetz noch vor der Wahl zustande zu bringen, müsse man eben auf die Forderungen Brandenburgs im Bundesrat eingehen, sagte gestern Fraktionschef Struck. „Auch die Grünen werden das erkennen müssen.“
Müssen sie das wirklich? Müssen die Grünen wirklich auf alle ihre Forderungen verzichten, nur damit die CDU zustimmt und die SPD das leidige Wahlkampfthema Zuwanderung vom Tisch bekommt? Nein, das müssen sie nicht. Im Gegenteil.
Denn gerade bei der Zuwanderung vertreten die Grünen weit mehr als vier Prozent der Wähler. Während Union und SPD die Grünen als Multikulti-Spinner abtun, die in Zeiten höchster Arbeitslosigkeit auch noch überflüssige Kostgänger aus der Fremde ins Land lassen wollen – ist doch das Umgekehrte wahr. Die Grünen verlangen nur, was alle Experten – ob von der Industrie, Kirchen oder Gewerkschaften – ebenfalls fordern. Eine vorsichtige Öffnung für Einwanderer, um Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen und den Geburtenrückgang auszugleichen.
Realitätsfern sind nicht die Grünen, sondern Union und SPD, die immer noch davon träumen, dass es ein sinnvolles Politikziel sein könnte, die Einwanderung nur zu „begrenzen“. Dabei können wir froh sein, wenn noch jemand zu uns kommen möchte.
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