stefan kuzmany über Charts: Jäger des verlorenen Hühnereis
Nach dem Eierwurf vom Alexanderplatz: Ratlosigkeit, Verwirrung, Sinnsuche, Einkehr, Ernüchterung
OUT „Einen Namen hat dieser „Zeitungsrundbrief“ inzwischen auch. Die Namensfindung hat fast zum Scheitern des Projektes geführt, da sich die Redaktion hoffnungslos verstritten hat. Es gab nämlich bis vor kurzem nur einen Vorschlag: „Farb-Eierwurf“. Dieser Name sollte zeigen, dass die AGJG radikaler ist als die Jusos, die ihre Zeitung „Eierwurf“ nennen.“
aus einem Rundbrief der
„AG Junge GenossInnen in und
bei der PDS Sachsen-Anhalt“
Am späten Abend des vergangenen Dienstag hatte ich eine Botschaft meines jüngeren Bruders auf der Mailbox. Er habe sich entschlossen, nun endlich seinen altgedienten Bildschirmhintergrund auszutauschen. Eine Röntgenaufnahme des Schädels von Homer Simpson, der Comicfigur, hatte ihm über Monate stete Belustigung verschafft bei der Arbeit an komplizierter Schraubdrehersoftware. Nun wolle er etwas anderes. Und zwar ein Bild mit Politikern drauf, er habe da eines in der Zeitung gesehen, das gefalle ihm besonders gut: die CSU-Politiker Glos und Stoiber mit dem CDU-Kandidaten für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Frank Steffel, auf einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Berliner Alexanderplatz. Das kennte ich doch sicher, ich arbeitete doch bei einer Zeitung, ob ich ihm das nicht bitte verschaffen könne? Klar.
Auch ich habe gelacht, als ich das geplatzte Ei auf der Stirn von Michael Glos (CSU) sah. Der symbolische Machtverlust eines ansonsten stets um seine Würde bemühten Politikers, ausgelöst durch ein wenig Eigelb und Eiweiß, ist einfach komisch. Eine biologische Attacke. Und so schön harmlos. Ganz anders als die Flaschen und Batterien, die auf dem Alexanderplatz auch geflogen sein sollen.
Ein wenig gelacht also, haha, hihi, hoho, schau an, der Glos mit Eigelb auf der Stirn, und wie sich der windige Steffel hinter dem Stoiber verkriecht, der wiederum, ganz künftiger Kanzler, seine spitze Nase mannhaft den Werfenden entgegenreckt. Und dann ins Grübeln gekommen. Ist das noch wirkungsvoll? Wem nützt das zerplatzte Ei?
In Sinnkrisen wie dieser hilft das Gespräch mit älteren, weisen Menschen. Und also suchte ich die Nähe zu einem verdienten Kollegen, erfahrenen Redakteur, in allen Protestformen geübten Experten. Und hörte zu und lernte.
Ich lernte: Der erste verbürgte Eierwurf in Berlin fand statt anlässlich des Schahbesuchs im Juni 1967. Man habe damals Eier auf die herausgeputzten Opernbesucher geschmissen, um sie von der Schändlichkeit ihrer Anwesenheit zu Ehren des verhassten persischen Staatsoberhauptes zu überzeugen. Die getroffenen Damen seien jedoch keineswegs bedrückt nach Hause abgerückt. Ganz im Gegenteil: Die hätten ihre versauten Klamotten wie Trophäen getragen.
Ich lernte auch: Zum gezielten Eierwurf gehört viel mehr als nur der Wille zur Provokation. Ein Ei so zu werfen, dass es auch dort ankommt, wo es hinsoll, ist eine der größten Herausforderungen der Ballistik. Das verlangt ein gutes Auge ebenso wie hinreichende Wurfkraft. Anlässlich der Schah-Opern-Aktion habe man seinerzeit gezielt die besten Eierwerfer in strategisch günstiger Position platziert.
Ich lernte ebenso: Ein Ei auf einen Menschen zu werfen ist Körperverletzung. Ein Ei auf ein Gebäude zu werfen ist Sachbeschädigung. Wenn man dabei erwischt wird, kann man sich damit herausreden, nicht getroffen zu haben. Versuchte Sachbeschädigung ist nicht strafbar.
Ich lernte abschließend: Bei Licht betrachtet sei das alles ziemlich doof. Und überkommen: Die ständige Wiederholung der immer gleichen Protestform verstärke nicht gerade die Kraft des Protestes. Die sollten sich doch endlich mal etwas Neues einfallen lassen. Ich dankte, ging.
Noch immer ratlos. Wem nützt das geplatzte Ei? Die Antwort lieferte ein Blick in die Nachrichtenagenturen. Die meldeten: Gezielt seien die Angriffe gewesen, ereifern sich die Konservativen, und gesteuert. Schuld sei der rot-grüne Senat, der die Spaltung der Stadt und so weiter und so fort und blablabla: „Lagerwahlkampf“ nennt man das wohl. „Bayerische Politiker nehmen Eierangriff sportlich“, hieß es weiter. Michael Glos habe sich abends gefreut: Sein Haar habe nach der Eierkur geglänzt wie sonst nie. Hihi, hoho, haha. Schau an, der Glos. Der hat Humor.
IN Wem nützt das geplatzte Ei? Dem Getroffenen.
Fragen zu den Charts?kolumne@taz.de
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