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stefan kuzmany über AlltagNachts schlafen die Nachbarn doch

Und wenn nicht? Dann gilt es, harte, aber gerechte Maßnahmen zu ergreifen. Es muss sein. Ruhe jetzt!

Was tut sie nur wieder? Es rumpelt. Es kracht. Es knarzt. Es ist drei Uhr früh. Aber meine Nachbarin schläft nicht. Und also kann ich es auch nicht.

Jetzt hat sie wieder eine kleine Pause eingelegt. Gerade lang genug, um mich wieder in ein leichtes Dösen abgleiten zu lassen. Gerade wollte ich noch aufstehen, mich ankleiden, die zwanzig Treppenstufen zu ihr hinaufsteigen und ihr die Meinung geigen. Aber vielleicht ist es jetzt ja vorbei. Irgendwann muss sie doch müde werden. Irgendwann muss doch jeder Mensch schlafen. Bitte bitte bitte bitte schlaf jetzt. Schlaf ein. Deine Augen werden schwer. Deine Arme werden schwer. Deine Beine werden schwer. Lass dich einfach fallen. Schlaf, Mädchen, schlaf. Ist es nicht wunderbar weich und warm und wohlig im Bett zu liegen? Genieße es. Gib Ruhe.

Pardauz! Was tut sie nur wieder? Hört sich an, als würde sie Stahlrohre, die sie in einer Ecke ihres Zimmers gelagert hat, in der Ecke, die sich genau über meinem Schreibtisch befindet, Stück für Stück umstellen, in jene Ecke, die sich über meinem Bett befindet. Ein Stahlrohr. Noch ein Stahlrohr. Und zwischendurch, vielleicht, weil sie ihren Körper für diese Schwerstarbeit in Form halten muss, scheint sie zu turnen. Sie hüpft auf und ab, sprintet in die Küche und wieder zurück, macht die Türen aller Zimmer und Schränke auf und knallt sie wieder zu. Kein Mensch kann allein so viel Krach machen. Ganz sicher hat sie ihre Freunde vom Hobbymöbelpackerkreis zu Besuch, die zeigen sich gegenseitig ihre Tricks im Umwuchten schwerer Gegenstände. Oder träume ich? Unmöglich. Bei dem Lärm kann ich nicht schlafen.

Vielleicht ist es ja das Alter. Auf einer Interrail-Tour habe ich einmal auf dem Bahnsteig der Londoner Victoria Station campiert. Aus dem tiefsten Schlaf weckte mich gegen fünf Uhr morgens ein Reinigungsarbeiter auf seiner Kehrmaschine. Nicht etwa durch den Lärm, sondern weil er mich mit seinen rotierenden Bürsten vom Bahnsteig fegte. Lärm war kein Problem.

Angefangen hat es mit der Lärmempfindlichkeit, als vor einigen Jahren ein Typ, der gegenüber wohnt, offenbar einen Job mit Dienstbeginn um vier Uhr früh angetreten hatte. Leider war der Job wohl nicht besonders gut bezahlt, jedenfalls nicht so gut, dass er sich eine Autoreparatur leisten konnte. Es war ein tägliches Drama, bis er seinen Wagen angelassen hatte. Sieben Mal röhrte der Anlasser durch die Nacht, dann schaffte er es endlich. Normalerweise. Doch nach drei Tagen war es der Anlasser müde. Und ich auch. Sieben Mal. Kein Start. Acht. Neun. Zehn. Er war immer noch da. Legte eine kleine Schampause ein. Versuchte es wieder. Da stieg die Wut in mir auf. Ich ging auf den Balkon. Ich wollte ihn anbrüllen: „Du verdammtes Arschloch, wenn du nicht sofort Ruhe gibst, komme ich runter und schiebe dir deinen Anlasser …“ Normalerweise ist das nicht meine Wortwahl. Und war es auch diesmal nicht. Denn genau in dem Moment, als ich schon Luft geholt hatte, als ich gerade die unflätigsten Beschimpfungen loslassen wollte, kam mir ein anderer Nachbar zuvor. Nackt stand er auf dem Balkon gegenüber, ein zorniger Rachegott, und brüllte Worte von biblischer Gewalt, Angst und Schrecken verbreitend. Wenn mich nicht alles täuscht, hatte er bereits eine geladene Schusswaffe in der rechten Hand. Berlin-Kreuzberg, Grenze Neukölln. Wilde Gegend. Hart, aber gerecht. Noch einmal jaulte der Anlasser, dann sprang der Motor an. Am nächsten Tag muss der Nachtarbeiter schon ein neues Auto gehabt haben. Oder einen neuen Job. Oder eine neue Wohnung. Oder eine Kugel im Kopf. Es war mir egal. Ich habe jedenfalls nie wieder von ihm gehört. Es folgten einige Monate himmlischen Friedens.

Und dann zog über mir dieser Poltergeist ein. Arbeitet sie? Hat sie einen anderen Lebensinhalt als jenen, mich um den Verstand zu bringen? Ich gehe jetzt hoch.

Sie tut so, als ob sie mein Klingeln nicht hört. Na warte. Ich kann auch poltern. Jetzt macht sie auf. Kein Gruß. Sie scheint sich gestört zu fühlen. Fragt gelangweilt: „Von oben oder von unten?“ „Von oben“, lüge ich. Diese Frau ist offenbar Ruhestörungsprofi. Wer weiß, was sie noch auf Lager hat. „Es wäre sehr schön, wenn du mich jetzt schlafen lassen würdest.“ „Sonst – was?“, giftet sie zurück. Verdammt. Sie weiß genau, dass ich nicht die Polizei rufen werde. Das hat sie auf den ersten Blick gesehen, dass ich noch nicht so weit bin. Ich ziehe wieder ab. Diese Nacht geht an sie.

Nachtrag. Jetzt habe ich sie. Morgens, bevor ich das Haus verlasse, schalte ich die Stereoanlage ein. Metallica, „Master Of Puppets“, Auto-Repeat. Wenn ich abends heimkomme, beschwere ich mich routinemäßig, sie habe wieder den ganzen Tag Krach gemacht. Sie hält mich für verrückt. Hihi. Soll sie doch. Aber nachts ist jetzt Ruhe. Ah! Wohlig, warm und weich ist es, im Bett zu liegen.

Fragen zu Alltag?kolumne@taz.de

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