stefan kuzmany über Alltag: Nach dem lauten Bing
Journalisten sind machmal wie Bestattungsunternehmer: Sie bringen Normalität in Ausnahmesituationen
Alltag ist immer. Als vor kurzem mein Vater gestorben war, hatten wir Besuch von einem Bestattungsunternehmer. Wir wussten noch gar nicht, wie uns geschehen war. Alles sah doch noch gleich aus, das Haus, der Garten, die Sonne schien, aber für uns war nichts mehr normal. Er war nicht mehr da. Die Welt hätte aufhören sollen, sich zu drehen, das wäre angemessen gewesen, aber sie tat es natürlich nicht. Sie drehte sich weiter, wie immer. Der Bestattungsunternehmer streckte seine rechte Hand aus zum Gruß und sagte: „Obermeierbeileid“. Fast hätte ich lachen müssen: Diese routinierte Namensnennung mit integrierter Beileidsbekundung war für den Mann mit dem dunklen Anzug und dem ernsten Gesicht alltäglich, sogar sein Beruf. Ich war ihm nicht böse wegen seiner Routine, im Gegenteil sogar fast dankbar für die Normalität, die er in die Ausnahmesituation brachte.
Journalisten sind manchmal wie Bestattungsunternehmer. Das ist der Alltag auf den Bildschirmen der Nachrichtenjournalisten, wo die Topmeldungen mit einem kurzen „Bing!“ aufflackern: Bing! Indisches Kampfflugzeug rast in Bankgebäude. Bing! Weiteres Djerba-Opfer in Berliner Krankenhaus gestorben. Bing! 17 Tote bei Amoklauf in Erfurter Schule.
Nichts wie hin. In Erfurt, kann man jetzt überall lesen, gibt es keinen Alltag mehr nach den Morden im Gutenberg-Gymnasium. Das stimmt so nicht. Alltag ist überall. Für die Reporter, die aus der ganzen Welt mit ihren Kameras und Notizblöcken angereist sind, zählt jetzt vor allem die Geschichte, das ist ihr Handwerk und ihre Routine. Die ersten Erfurter verweigern sich schon am Freitagabend. Gefragt, wo es denn zum Gymnasium ginge, sagt ein junges Pärchen nach misstrauischem Blick: „Das können wir Ihnen nicht sagen.“ Sie wollen in Ruhe gelassen werden, vor allem jene, die trauern. Längst nicht alle sind betroffen. Viele junge Leute wandeln mit der Bierflasche in der Hand auf der Straße. Es lässt sich nicht sagen, ob sie ihren Schmerz im Alkohol ertränken und ihr Lachen nur die Panik überspielt. Mit vielen, so scheint es, hat es einfach nichts zu tun, was einige Straßen weiter passiert ist. Aber solche sind ja nicht interessant. Interessant sind diejenigen, die weinend vor der Schulpforte ihre Blumen und Kerzen ablegen. Die kommen ins Fernsehen und in die Reportage.
Am Sonntag nach der Bluttat bietet Erfurt ein seltsames Bild. Es sind nicht weniger Menschen geworden, die zum Gutenberg-Gymnasium pilgern, sondern viel mehr. Im Rathaus findet gleich eine große Pressekonferenz statt. Auf dem Rathausplatz stehen Feuerwehrautos und ein rotes Notfallzelt, in solchen fand auch die Erstbetreuung der geschockten Schüler statt. Aber wen gibt es heute zu betreuen? Welchen Brand will die Feuerwehr löschen? Die Betroffenen sind im Rathaus versammelt, und nirgendwo brennt es. Allein für die Kameras stehen die Requisiten des Ausnahmezustands da. Vor und im Notfallzelt lassen sich die Krisenpsychologen von Journalisten befragen, mit ihren Overalls und vor der Kulisse eines imaginären Einsatzortes geben sie ein viel besseres Bild ab als in der langweiligen Praxis.
Im Rathaus stellt sich derweil eine Schülersprecherin der Weltöffentlichkeit, aber manchmal drängt sich der Eindruck auf, es ginge gar nicht darum, was die Schülerin zu sagen habe. Ein Kollege von der B. Z. stellt sich ausführlich als Polizeireporter aus der Hauptstadt vor. Er erläutert lang und breit seine These, dass sich so ein Vorfall seiner Ansicht nach doch zuerst in Berlin hätte ereignen müssen, und will dann von der Schülerin wissen, ob man bei ihr in der Schule nicht etwa zu hart mit Außenseitern umgegangen sei. Was soll die Schülerin darauf antworten? Das billige Aftershave des Reporters wabert durch den Raum.
Ein lokaler CDU-Politiker präsentiert sich in einer Doppelrolle: erstens als Vater von Gutenberg-Schülern. Und zweitens als langjähriger Kritiker einer Besonderheit des Thüringer Schulrechts, die es Schülern, die endgültig durch das Abitur fallen, besonders schwer macht. Nach der Konferenz gibt er sofort Fernsehinterviews. Er lächelt und streicht sich durchs Haar. Alltäglich ist es nicht, was ihm heute widerfährt. Aber es kommt ihm augenscheinlich nicht ungelegen.
Am Mittwoch, wieder zurück in Kreuzberg, sitzt schon wieder so ein verdammter B. Z.-Typ am Nebentisch. Diesmal auf dem Heinrichplatz, kurz bevor die Mai-Krawalle losgehen. Missmutig hält er einen Platz für seinen Fotografen frei. Der streicht durch die Gegend und will Gewalt vor die Linse bekommen. Ein ums andere Mal kehrt er zurück, ohne Erfolg melden zu können. „Eine elende Aktion ist das hier“, raunzt er über den Tisch. Alltag ist nur, wenn es kracht.
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