starke gefühle: Fortschritt? Rückschritt! Mit der Flasche verbundene Deckel sind nicht barrierefrei
Nun gibt es sie schon ein Jahr, und immer noch frusten mich Tethered Caps regelmäßig. Zur Erinnerung: Tethered Caps sind die im Juli 2024 eingeführten neuen Verschlusskappen, die fest mit der Getränkeflasche verbunden sind und über die seither leidenschaftlich diskutiert wird. Auch mir sind bereits etliche Flaschen ausgelaufen, weil ich den pseudorevolutionären EU-Deckel nicht richtig zugeschraubt hatte, ohne es zu merken.
Nervös bin ich nun, wenn sich Laptop und Wasserflasche in derselben Tasche befinden. Manchmal verzichte ich ganz pragmatisch auf das Getränk. „Hol dir einfach eine Mehrwegflasche und füll sie mit Leitungswasser auf“, höre ich schon einige sagen. Doch das fade Leitungswasser würde in meinem Rucksack nur noch fader werden. Ich bevorzuge Kohlensäure und Geschmack beim Trinken – kommt beides nicht aus dem Wasserhahn. Auch Soda-Mixer sind keine Lösung; wer ständig unterwegs ist wie ich, für den ist das einfach impraktikabel. Früher ging ich oft spontan in den Supermarkt und holte mir das Getränk, auf das ich Lust hatte. Oder gleich zwei. Stressfrei und sorglos transportierbar. Das ist vorbei.
Ich trinke gern Smoothies, Milch- und Proteinshakes. Für mich als ADHS-Betroffene waren Trinkmahlzeiten bis zur Einführung dieser Zwangsdeckel eine entspannte Frühstücksalternative und schnelle Zwischenmahlzeit. Morgens, wenn die Medikamente noch nicht wirken und ich besonders schusselig bin, möchte ich weder mit Messern hantieren noch Müslischüsseln umwerfen. Trinkmahlzeiten waren die Rettung. Doch seit der EU-Richtlinie ist das entspannte Expressfrühstück passé. Oft tropft mir Flüssigkeit, die sich nach dem Schütteln im Deckel gesammelt hat, über den Pulli oder auf den Boden. Mittlerweile schneide ich die Caps manchmal einfach ab – wenn ich gerade eine Schere griffbereit habe. Selbst dabei gab es anfangs noch Rückstoßprobleme, die zu Flecken führten. Das passierte auch, als ich bei Tetrapacks den Verschluss zu schnell nach oben zog. Plopp, und schon war die Milch auf dem Shirt. Tethered Caps kotzen mich an: meistens metaphorisch, manchmal buchstäblich.
Dabei hatte ihre Einführung durchaus ein hehres Ziel, nämlich die Zahl der in der Landschaft herumliegenden Plastikdeckel zu reduzieren. Ich wäre allerdings auch vorher nicht auf den Gedanken gekommen, einen Deckel separat wegzuschmeißen. Wieso auch? Bei leeren Flaschen sorgte er dafür, dass Resttropfen auf dem Weg zum Müll oder zur Pfandstation nicht ausliefen.
Apropos Pfand: In Deutschland werden 97 Prozent der PET-Flaschen zurückgegeben, 95 Prozent davon mit Deckel. Das Problem wurde also schon 2003 mit der Pfandpflicht ziemlich erfolgreich angegangen, Jürgen „Dosenpfand“ Trittin sei Dank.
Für mich sind die neuen Deckel ein ungesunder Stressfaktor. Ich trinke weniger Wasser, lasse Mahlzeiten aus, kaufe mir seltener Milch und Orangensaft im Tetrapack. Weil ich weder Lust habe, den Deckel beim Einschenken festzuhalten, noch darauf, dass die Plörre beim Eingießen plötzlich über den Deckel hinweg die Ausfahrt Richtung Küchenplatte nimmt. Außerdem kriecht die Flüssigkeit oft in den Deckel, trocknet an und riecht ekelhaft, dann kippe ich den Inhalt angewidert weg. Natürlich gibt es Alternativen wie Glasflaschen, aber die sind meist teurer.
Dass ich mit meiner Kritik zu Tethered Caps nicht allein bin, hat gerade erst eine Umfrage des Nürnberger Instituts für Marktentscheidungen gezeigt – 63 Prozent der Befragten fanden die neuen Verschlüsse weniger praktisch als herkömmliche. Und das Deutsche Institut für Normung (DIN) hat schon Ende 2024 herausgefunden, dass insbesondere Menschen mit eingeschränkter Handkraft, Ältere und Menschen mit starker Sehbeeinträchtigung nun Schwierigkeiten beim Öffnen und Schließen der Flaschen haben. Alltagsverwirrung haben Befragte in der Studie ebenfalls kritisiert. Auch für mich sind die vielen unterschiedlichen Verschlusssysteme ähnlich kompliziert wie die tägliche Frage, ob der obere oder der untere Lichtschalter zur Küchenlampe gehört.
Die Lass-mich-dran-Deckel sind also nicht nur nervig, sie sind zudem auch nicht barrierefrei. Dass Plastiktüten und Strohhalme verboten wurden, kann ich verstehen. Aber die Deckel? Haben Probleme geschaffen, wo vorher keine waren. Klaudia Lagozinski
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