piwik no script img

standbildOffen irre

Das ganz andere Dorf

(Di., 20.15 Uhr, Arte)

„Was soll’s, wir haben alle unser Handicap“, sagt der Leiter des Psychiatrischen Klinikums Wahrendorff, Matthias Wilkening. Er selbst trage eine Brille, ein anderer brauche Einlagen für die Schuhe, weil er Plattfüße habe, wieder andere hätten hingegen ein Handicap an Seele oder Geist. Um zu demonstrieren, wie er das meint, wendet er sich einem Patienten zu, der einen riesigen goldenen Hut trägt. „Er ist, wie er ist mit seinem Hut. Warum soll er anders durch die Gegend laufen. Er würde mich ja gar nicht verstehen, wenn ich ihm das abverlangen würde“, sagt Wilkening und grinst den Mann an. Der lacht zurück.

Eine interessante Umgangsweise mit Menschen, die landläufig als „irre“ oder „verrückt“ bezeichnet werden. Steffen Mlyneks Dokumentarfilm zeigt mit viel Sympathie die fortschrittlichen Methoden der niedersächsischen Klinik, die an die italienische Bewegung der offenen Psychiatrie erinnern. Im Film wird deutlich: Die als Verwahrungsanstalt verrufene Einrichtung, in der in riesigen Räumen einst tagelang ungewaschene geistig behinderte Menschen vor sich hin dämmerten, hat sich zum „kundenorientierten Fachkrankenhaus“ gemausert. Das verheißungsvolle Wort „Kundenorientierung“ füllt sich mit Leben, wenn die Kamera auf Herrn Schmidts zufriedenem Gesicht ruht, für den sich die Therapeutin Besonderes einfallen ließ. An der Decke hat sie künstliche Blumenbeete arrangiert. Denn Herr Schmidt liebt Blumen und liegt gern auf seinem Bett. Jetzt lässt sich das wunderbar miteinander vereinbaren. Kein kitschiges Bild einer Idylle, auch Kritikerstimmen sind zitiert: Den Patienten gehe es zu gut. Auf diese Weise würden sie auf ihre Krankheitsbilder fixiert, hätten deshalb zu wenig Antrieb, nach „Heilung“ zu streben. Im Film bleibt dies unkommentiert. Doch die Patienten wirken lebhaft und froh gelaunt. Der Anstaltsleiter stellt klar, er sehe es nicht als seine Aufgabe an, Patienten das Leben unangenehm zu gestalten. Heilungserfolge seien erfahrungsgemäß nach dieser Methode selten.

Der Film schafft es, den Zuschauer mitzureißen: Wir haben Herrn Schmidt kennen gelernt und mögen ihn und sein außergewöhnliches Hobby.

GITTA DÜPERTHAL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen