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Archiv-Artikel

sozialkunde Elemente der deutschen Leitkultur

Ausländerfeindlichkeit – Ausländerfreundlichkeit, Romantik – Aufklärung, Technik – Komplexität: Sich deutsch zu fühlen heißt, in den drei Widersprüchen zu Hause zu sein

Die deutsche Leitkultur ist ein eigentümliches Amalgam von Selektion und Integration. Äußerst sperrig gegenüber Fremden, sobald diese auf Lebensformen, auf Essgewohnheiten, Kleidungsstilen, Heiratssitten und Wertvorstellungen beharren, die sich von deutschen Lebensformen unterscheiden, hat sie sich darauf kapriziert, ein Weltverhältnis zu definieren, das ebenso sehr romantisches Deutschlandbild wie technischer Weltbezug ist. Drei Elemente scheinen demnach wesentlich für diese Leitkultur zu sein: eine gewisse Ausländerfeindlichkeit, solange die Ausländer sich nicht verhalten wie die besseren Deutschen, ein eher abstraktes Verhältnis zur eigenen Zivilisation, indem diese eben nicht als Zivilisation, sondern als Kultur und damit als etwas Tiefes verstanden wird, und eine Leidenschaft für die Reduktion von Komplexität auf Technik, insofern sich hieraus ingenieurwissenschaftliche Leistungen gewinnen lassen, die mit Erfolg in der Welt verkauft werden können.

Jedes dieser Elemente tritt zugleich in der Form des Widerspruchs zu sich auf. Die Ausländerfeindlichkeit paart sich mit einer mal kosmopolitischen, mal ethnologischen Leidenschaft für das Verständnis des Fremden, mit einer touristischen Neugier auf die Welt, die ihresgleichen sucht und die stolz darauf ist, deutsche Beschränktheiten hinter sich lassen zu können. Das romantische Selbstverständnis, das in der Nibelungentreue, im Dichterwort und im Tiefsinn des Philosophen wurzelt, steht gleichzeitig auf vertrautem Fuß mit einer Tradition der Aufklärung, der man sich nicht zugehörig fühlt und die man doch radikaler zu denken versucht als jeder andere. Und selbst die Ingenieure, die draußen unterwegs sind und einfache Lösungen für komplizierte Probleme entwerfen, entwickeln einen scharfen Blick für die Unwägbarkeiten und Unlösbarkeiten von Lebensverhältnissen, die gerade dann, wenn sie auf Dilemmata hinauslaufen, ihr eigenes Recht und ihren eigenen Sinn haben.

Auf einen einfachen Nenner lässt sich diese Dreifaltigkeit mit eingebautem Widerspruch nicht reduzieren. Sich deutsch zu fühlen heißt, sich in einem der sechs Werte Ausländerfeindlichkeit, Ausländerfreundlichkeit, Romantik, Aufklärung, Technik und Komplexität zu Hause zu fühlen und alle anderen fünf Werte mit zu führen. Wird man auf einen der sechs Werte verpflichtet, weicht man aus auf einen der fünf anderen, von denen aus man negieren, aber auch reflektieren kann, womit man im besten Sinne der Dialektik Theodor W. Adornos nichtidentisch identisch ist. Wer das nicht aushält, beruft sich auf einen siebten und achten Wert, die eigene Religion im Unterschied zur Religion der anderen und die eigene Region im Unterschied zur Region der anderen, und gewinnt aus diesen beiden Werten eine ruhige Sicherheit und einen heimischen Dialekt, die es beide gleichermaßen erlauben, sich aus den sechs ersten Werten eine Weltauffassung zu basteln, die ebenso schlicht wie nuanciert ist. Im besten Fall hält man das einige Jahrzehnte durch und gewinnt einen Charakter, der biografisch belegt ist und umso glaubwürdiger wirkt, je eindeutiger, im Spielraum einer gewissen Unschärfe, er festzulegen erlaubt, wozu man sich mit welchen Einschätzungen äußert und wozu nicht.

Die deutsche Leitkultur ist das Gedächtnis der deutschen Gesellschaft. Es definiert, woran man sich erinnert und was man vergisst. Es hält fest, was man für falsch und was man für richtig hält – inklusive der Möglichkeit, das Falsche für richtig und das Richtige für falsch zu halten, sonst hätte man es nicht mit Kultur zu tun. Jedes historische Datum, jedes aktuelle Problem und jede denkbare Zukunft verfangen sich in dem Raster eines Wertekanons, der durch diese sechs bis acht Werte beschrieben ist. Auschwitz ist auf diese These das grauenvolle und unbewältigbare Exempel einer extremen Fremdenfeindlichkeit vor dem Hintergrund einer romantischen Sehnsucht nach Reinheit und einem Vertrauen in die technische Durchführbarkeit des Massenmordes, dem auch Heideggers Begriff der Technik als Gestell nicht auf die Spur gekommen ist.

Jeder Versuch seither, auf politisch korrekte Fremdenfreundlichkeit, auf soziologische Aufklärung über die Komplexität der Welt und auf ein ökologisches Misstrauen gegenüber der Reduktion auf ein technisches Problemlösungsverständnis umzustellen, stößt sich an einem politischen Kalkül, das das deutsche Selbstverständnis dort bedient, wo es sich nach wie vor am meisten zu Hause fühlt. Den romantischen Traum von einer Gemeinschaft, die sich die Welt als Ideal einrichtet, bedienen hierzulande sowohl die rechten wie die linken Ideologien. Selbst dort, wo wir auf Pragmatik umschalten, glauben wir, dass pragmatische Lösungen darin bestehen, eine bisher nicht gesehene, aber einfache Wahrheit auf den Punkt zu bringen. DIRK BAECKER