robin alexander über Schicksale: Der Schere ausgeliefert
Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Im Friseursalon bin ich mir da nicht so sicher
„Meine Hobbys sind Disco und Sportstudio. Und deine?“
„Meine auch.“
Diese Antwort ist völliger Quatsch. Ich gehe gar nicht gerne tanzen und wenn, dann heißen die Läden nicht „Disco“ sondern „Club“. Und Sportstudio? Meine Erfahrungen mit der eigenen Muskulatur mache ich nicht in der Mucki-Bude, sondern, wenn überhaupt, bei einer Physiotherapie.
Aber es gibt eben Situationen, in denen man Frauen einfach anlügen muss. Zum Beispiel wenn sie hinter einem stehen und mit einer langen spitzen Schere ganz nah an der Halsschlagader hantieren.
Nein, natürlich habe ich keine Angst, dass ich von meiner Friseuse erstochen werde. Das hat sie ja gar nicht nötig: Sie muss sich nicht mit einem Mord strafbar machen: ein schräg ausgeschnittener Nacken, asymmetrische Koteletten und ein schiefer Pony sind Delikte, welche unverständlicherweise immer noch nicht verfolgt werden.
Hier kann ich nicht auf Polizei und Justiz rechnen: Hier im „Hair-Haus“ bin ich ohne Schutz und Hilfe. Ganz allein. Und ich, der ich gelernt habe, „Nein!“ zu sagen zu Eltern, Lehrern und zur Bundeswehr, zu Männern, Frauen und Vorgesetzten, ich werde alles, alles mit einem lauten „Ja“ bestätigen, was diese 19-Jährige mit knallroten Strähnen und schwarzer Stretch-Hose mir erzählt und von mir gern hören will.
Wie sonst nur in wenigen Orten, liegen auch beim Besuch eines Friseursalons Himmel und Hölle nahe beieinander. Duftende Wässerchen, sanfter Druck von erfahrenen Fingern und Cindy, die eigentlich eine sympathische Erscheinung ist. Das Grundübel des Friseurbesuches ist der Smalltalk, der nicht zufällig wie jede große Geißel unserer Zeit mit einem Anglizismus getarnt wird. Smalltalk, kleines Gespräch – das klingt nach Plauderei. Harmlos. Nett. Dabei gibt es in Wirklichkeit wohl keine Situation, die weiter vom Ideal der „herrschaftsfreien Kommunikation“ entfernt wäre, als das Gespräch mit dem Menschen, der einem die Haare schneidet. Smalltalk beim Friseur muss anscheinend sein: Ohne sinnleere Kommunikation kann man Haare nicht kürzen.
Das Thema bestimmt immer die, die eine Schere in der Hand hat. Und mit einem Gespräch über gemeinsame Hobbys bin ich eigentlich noch gut bedient. Auf einem Tischchen neben dem Waschbecken rufen das Goldene Blatt, Frau im Spiegel und Die Aktuelle in die gepeinigte Welt, man solle sich für die neue Frau eines norwegischen Prinzen interessieren.
Die Gewalt dieser Situation – Friseur/Friseuse und Kunde/Kundin – hebt die Gewalt der Verhältnisse komplett auf: Geschlecht, Bildung, Einkommen – alles wird irrelevant, hat man erst Platz genommen vor den großen Spiegeln, die einen das eigene Elend auch noch schauen lassen. Diese Ohnmacht ist immer die gleiche – ob man wie ich für 22,50 Waschen und Schneiden von Cindy kriegt oder beim „Haarleluja“ hunderfünfzig hinlegen muss.
Eine Bekannte, die als Lehrerin an einer gewöhnlichen Hauptschule arbeitet, lässt ihre Dauerwelle prinzipiell nur in der eine Stunde Autofahrt entfernten Nachbarstadt erneuern: Zu groß scheint ihr das Risiko, Smalltalk-Objekt in den Scherenhänden ehemaliger Schülerinnen zu werden.
Die Ohnmacht auf diesem Stuhl spürt man selbst in der allmächtigsten Rolle, die auf dieser Welt zu vergeben ist: als Tourist. Dem Besucher ferner Länder und Städte bleibt nur, alle Sprachkenntnisse zu leugnen, lässt er sich im fremden Land die Haare schneiden: Ein Freund wagte einmal in Moskau gegen den erklärten Rat seines „Parikmacher“ (russisch für Friseur) darauf zu bestehen, seine schwarze Lockenpracht auf eine modische Kurzhaarfrisur zu reduzieren. Er sah schließlich so aus, wie sich Russen einen entlaufenen Kadetten oder einen flüchtigen Insassen einer Irrenanstalt vorstellen. Was ihm in den nächsten Wochen jede Milizstreife bestätigte – nach Kontrolle seiner Papiere.
Ich selbst kam einmal auf die dumme Idee, die günstigen Preise des peruanischen Friseurhandwerks zu nutzen, um mir bei einem „peluquero“ mit einem echten Rasiermesser von einer Angestellten morgens die Bartstoppeln entfernen zu lassen – wie ein echter Kolonialherr. Echte Kolonialherren haben allerdings keine Träne im Augenwinkel, weil so ein echtes, scharfes Rasiermesser echt verdammt scharf in die Haut ritzt.
Cindy aus dem „Hair-Haus“ lacht nicht über mich. Sie schimpft mit mir: Die Wirbel im Nacken seien „wirklich ’ne Zumutung“. Entschuldigung. Mein Haar sei „vorne aber schon sehr dünne“. Tja. Schade, meint sie, dass mein Haar „keine wirkliche Farbe“ hat. Hier fiel mir das „Mädchen mit den schmutzfarbenen Haaren“ ein. Aber Brecht haben Cindy und ich nicht auf der Liste unserer gemeinsamen Hobbys. Besser schweigen. Und ein vorsichtiges Nicken. Cindy und ich verstehen uns. Und wie alle Menschen, die sich ihrer Macht vollkommen sicher sind, findet sie am Ende sogar tröstende Worte:
„Weißt du: Männer müssen nicht gut aussehen. Männer brauchen Charakter.“
Fragen zu Schicksalen?kolumne@taz.de
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