robin alexander über Schicksal: Wenn Geschichte lebt und lästig wird
Man versteht nichts und zahlt in Dollar: Moskau. Aber Deutschland ist trotzdem überall
In einer Aeroflot-Maschine sitze ich und fliege meinen Klischees entgegen: nach Moskau. Dort sind bekanntlich die Getränke klar und die Luft kalt, die Kirchen rund und die Frauen schlank. Als Westler versteht man nicht einmal die kyrillischen Buchstaben, aber bezahlt wird in Dollar. Genau der richtige Ort für einen Urlaub zum Jahresende. Genau der richtige Ort, um den Kopf freizubekommen von Arbeit und Grübeln!
Nicht um die Köpfe sorgen sich die Daheimgebliebenen, sondern um die Füße junger Russlandreisender. Zum Kauf schwerer Stiefel rät die Liebste, „nicht zu billig“ raten die Freunde, „fellgefüttert“ rät mit Nachdruck die Oma, die aus biografischen Gründen Russlandreisen skeptisch sieht. Russen trügen genähtes Schuhwerk, niemals genageltes, behauptet ein Kollege und versteift sich auf die These, das Unternehmen Barbarossa sei weiland nur gescheitert, da „die Kälte durch die Nägel in die Stiefel der deutschen Soldaten zog“. Das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte lässt mich also schon im Flughafen den Blick senken und feststellen: Sechzig Jahre nach dem Großen Vaterländischen Krieg stapfen viele Russen über die Heimaterde in Goretex-Imitaten. Die Nähte sind nur aufgestanzt.
Hitler kam nie bis Moskau. Aber seltsam: Trifft man Deutsche in der russischen Hauptstadt, ist der tote Diktator allgegenwärtig. Der Freund aus Studienzeiten, der mich in seinem Moskauer Zimmer beherbergt, berichtet am eigenen Beispiel von deutscher Schwierigkeit mit russischer Erinnerung an Nazizeiten. Er hat sowjetische Archive nach Hinweisen auf Zwangsarbeiter der Deutschen durchforstet und die Arbeit unterbrochen, als es an die Zeitzeugenbefragung ging. Zu oft berichteten ihm ehemalige Sklaven beim Tee, es sei schlimm in Jena, Dessau und Berlin gewesen, kaum besser aber nach der Rückkehr in die siegreiche Sowjetunion. Dem Elend aber will man Anfang und Ende zuordnen: Täter und Befreier. Sonst ist es nicht auszuhalten. Also forscht der gelernte Atheist jetzt über die nachrevolutionäre Transformation orthodoxer Feste in sowjetische Feiertage. Ein wissenschaftliches Gebiet, dessen Bedeutung sich Geldgebern nicht sofort erschließt. Und Nebenjobs für junge deutsche Historiker sind rar in einem Land, wo Professorinnen als Garderobiere arbeiten. Einmal ist mein Freund beinahe bei einer MOS-Filmproduktion untergekommen. Er sollte einen SS-Offizier spielen, der von sieben Kindern festgenommen wird. Die Filmleute entschieden sich schließlich für einen anderen Darsteller. Dabei erfüllte der Faschismusexperte meines Vertrauens alle Qualifikationen zur Darstellung eines SS-Schergen. Es galt hochgewachsen und blond zu sein und akzentfrei den deutschen Satz zu sprechen: „Von uns sind noch viel mehr hier.“
In gewissem Sinne stimmt der Satz sogar. Man kann heute in Moskau fünfzigjährige irische Geschäftsleute treffen, die Werkzeugmaschinen verkaufen wollen, vierzigjährige japanische Perverse, die russische Mädchen suchen und dreißigjährige amerikanische Journalisten, die auf einen Weg nach Kabul hoffen. Und zwanzigjährige Deutsche, die Wiedergutmachung für die Verbrechen ihrer Großväter leisten. Ich will nicht missverstanden werden: Sicher ist die Betreuung ehemaliger Gulaginsassen durch deutsche Freiwillige segensreich, die von Aktion Sühnezeichen und ähnlichen Vereinen organisiert wird. Aber einen Jugendlichen aus Osnabrück oder Eckernförde kann der Versuch schon überfordern, den russischen Alltag und die deutsch-sowjetische Geschichte gleichzeitig zu stemmen.
Ich jedenfalls habe genug von düsteren Vergangenheiten. Zwischen Kremlmauern und Lenins Mausoleum, wo Geschichte zur Kulisse geronnen ist, muss sie doch tot sein, kann sie nicht leben und den Reisenden belästigen! Auf den Roten Platz führt mich am Abend vor der Abreise eine russische Freundin. Alles scheint ganz gegenwärtig. Selbst ein Uniformierter vor dem Grab des Revolutionärs scherzt guter Dinge. „Do you want to see the Cremlin wall?“, übersetzt meine Begleiterin und warnt mit hochgezogenen Augenbrauen: „Tschekist.“ Der Mitarbeiter der KGB-Nachfolger hält uns für ein amerikanisch-russisches Paar. Er mag Amerika, sagt er, aber bei der Popmusik, da bevorzuge er „odna nemjezkaja gruppa“. Deutsche Popgruppen? Ich ahne Schlimmes und tatsächlich brüllt Lenins Wächter fast über den Roten Platz: „Rrrrrammstein!“
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