robin alexander über Schicksal: Blut auf dem Rücksitz
Nicht die Familie ist das Abbild unserer modernen Gesellschaft, sondern das Taxi
Noch 15 Minuten. Dann geht der Zug – und ich bin noch zu Hause. Ein gut bezahlter Auftrag von einer schlechten Zeitung hängt daran, dass ich diesen Zug erreiche. Also schnell vier Treppen hinuntergestürzt, an den Bürgersteig gestellt, die rechte Hand fordernd in die Straße gehalten und beinahe geschrien: „Taaaaxi!“ Was passiert? Nichts. Natürlich. Im Kino oder in Manhattan kann man vielleicht auf diese Weise ein Taxi kriegen, aber ich lebe in Deutschland. Hier fahren Taxis nicht, hier warten sie. Vielleicht, weil der Sprit so teuer ist. Oder weil die Fahrer sich so gut miteinander verstehen. Jedenfalls sammeln sich die leeren Wagen am Taxistand, in den Straßen findet man sie nicht. In anderen Ländern kann man sich nicht darauf verlassen, dass ein vorbestelltes Taxi tatsächlich zum vereinbarten Zeitpunkt kommt. Bei uns kann man sich darauf verlassen, dass man spontan kein Taxi kriegt.
Die Idee, die Familie sei das Abbild der Gesellschaft, ist ein konservativer Irrtum. Für die Arbeitsgesellschaft stand die Werkshalle, für die Angestelltengesellschaft das Büro, für die Konsumgesellschaft der Supermarkt. Die Verbindung von Hypermobilität und Konsum, die unsere Lebensweise prägt, bildet sich am besten im Taxi ab. Nichts verrät mehr über ein Land als die Form, wie die simple Dienstleistung des Chauffierens verkauft wird. Bei uns in Deutschland geht es auch zwischen Vorder- und Rücksitz traditionell normiert, gesittet und teuer zu. Allerdings kam in diesen Tagen heraus, dass Berliner Taxifahrer ortsunkundigen Fahrgästen den Betrag, den ihr D-Mark-Taxameter anzeigt, gerne in Euro berechnen. In Ländern mit stärkerer Wettbewerbstradition geht es auch im Taxi härter zu: „Manchmal ist Blut auf dem Rücksitz“, erzählt der Killer und Held, zu dem Robert de Niro in „Taxidriver“ wird. In Wirklichkeit heißen die Taxifahrer in New York nicht taxi-driver, sondern cab driver, erzählt Steve, der drei Jahre lang einer war. Blut spritze eher selten, aber der tägliche Krieg mache tatsächlich vor dem Rücksitz nicht halt. Steve zeigt mir seine Erinnerung an drei Jahre NYC-Chauffieren: einen Diamantring. Den will er mit Taxifahren verdient haben. „Take my diamond ring“, hatte ein Kundin gesagt, nachdem er sie von Queens bis hoch in die Bronx kutschiert hatte. Sie müsse Dinge aus der Wohnung ihres gewalttätigen Exmannes holen, der glücklicherweise gerade jetzt arbeite. Der Ring sei nur ein Pfand, sie käme garantiert zurück und werde zahlen. Steve versuchte beim Warten mit dem Stein des Ringes Kratzer in die Windschutzscheibe seines gelben Wagens zu ritzen. Diamant schneidet Glas. Klappte aber nicht. War Steve betrogen worden, oder drückte er den Stein nur zu schwach gegen die Scheibe? Sie kam tatsächlich zurück – beladen mit Klamotten.
Auf dem Rückweg durch die Riesenstadt lobte sie sein „außergewöhnliches Vertrauen“, flirtete und versprach sogar, ihn zum Essen einzuladen. Nur schnell noch die Sachen hochbringen. Er könne ja beruhigt warten. „You’ve still got my diamond ring.“ Den hat er bis heute. Am Ende einer 24-Stunden-Schicht sei man so erschöpft, sagt Steve, dass man an das Gute im Menschen zu glauben beginne.
So etwas ist dem arabischen Fahrer, der mich mittlerweile vom Straßenrand abgeholt hat, noch nie passiert. Deutsche zahlen ihre Fahrt immer, sagt er, aber sie geben nur wenig Trinkgeld, obwohl sie Quittungen verlangen. „Fahren nicht zum Spaß, sind Profis halt, was?“, sagt er und gibt Gas, damit ich meinen Zug erreiche.
In Palästina berichtet er, sei Taxifahren günstig. In Mercedes-Kleinbussen, so genannten sheruts, sammeln sich acht oder neun Kunden, die ein gemeinsames Ziel ansteuern. Ärger gebe es dabei nie, jeder entrichte gerne seinen Obulus. Die Gefahr, dass das sherut an einem Checkpoint der israelischen Armee willkürlich gestoppt werde und alle gemeinsam zu Fuß weiter müssen, sei groß und schaffe emotionalen Zusammenhalt zwischen den Fahrgästen und dem Fahrer.
Hier in Deutschland fehlt uns also der gemeinsame Feind, um eine Gemeinschaft über die Grenze zwischen Vorder- und Rücksitz zu entwickeln, denke ich noch, als mein arabischer Chauffeur schnell in die Straße vor dem Bahnhof einbiegt – und voll in die Fahrertür eines anderen Taxi-Benz kracht. Dessen Vorfahrt hat er vor lauter Reden übersehen. Jetzt stehen beide Wagen eingebeult mitten auf der Straße. 200 Meter vor dem Bahnhof. Noch fünf Minuten bis der Zug fährt. Schnell zahlen. Ich gebe heute sogar fünf Euro Trinkgeld und verabschiede mich: „Tut mir leid.“ Und: „Ich brauch ’ne Quittung.“
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