robin alexander über Schicksal: Leis und böse lächelt Mehdorn
Still, grau und traurig wird es werden, dieses Land, einsam die Alten und sprachlos die Jungen
Nur Reisen ist Leben.
Jean Paul
Vorgestern verstarb nach langer, schwerer Krankheit eine alte Dame. Sie war weder schön noch freundlich, ihre besten Tage lagen hinter ihr, und lang schon war sie gebrechlich. Trotzdem liebte ich sie: die Deutsche Bahn. Das Begräbnis fand nicht im engsten Bekanntenkreis statt und ließ die stille Melancholie des christlichen Rituals vermissen. Im Gegenteil, der Mörder trug sein Opfer selbst zu Grabe und raubte ihm schamlos noch die Leichenwürde: Hartmut Mehdorn, Vorstandvorsitzender der Deutschen Bahn AG, ist ein Wiederholungstäter an der immer gleichen Leid Tragenden.
Der menschelnden Atmosphäre im Zug setzte er mit Videositzen, Rauchverbot, Abschaffung der Speisewagen und Beflissenheitsregeln fürs Personal schon schwer zu. Am Mittwoch aber feierte Mehdorn in der lichten Halle eines Berliner Museums für Zeitgenössische Kunst mit Sekt, Musik, Prominenz und einer neuen Werbekampagne seinen finalen Todesschuss für die Bahn: ein neues Preissystem.
Das klingt harmlos? Von wegen: Mehdorns perfider Plan, euphemistisch „revolutionäres neues Ticketsystem“ getauft, raubt dem ältesten deutschen Verkehrsmittel nicht nur das Leben, sondern auch die Seele. Dass es zukünftig nur noch 25 statt 50 Prozent Rabatt mit Bahncard gibt, ist unter der Rubrik „gewöhnliche Zumutungen im Kapitalismus“ zu verbuchen. Aber dass das eingehende Kundengespräch beim Kauf einer Fahrkarte entfallen soll, das ist herzlos.
Welche seltene, ganz eigene Schönheit hatte das Ritual am Schalter, das mit dem technokratischen Begriff „Ermittlung des Kundenstatus“ nur unzureichend beschrieben ist. Hier gab es Menschen, die noch Zeit hatten! Hier wurde noch zugehört! Und nachgefragt! „Möchten Sie vor oder nach 17 Uhr reisen? Nur Hinfahrt? Besitzen Sie eine Bahncard? Besitzt ihre Mitfahrerin auch eine Bahncard? Sind Sie Student? Sind Sie bis zu sechsundzwanzig Jahre alt? Stehen Sie mit ihrer Mitfahrerin in einem solchen Verhältnis, dass Sie erwägen könnten, Ihre Karte mitzukaufen und so den halben Fahrpreis für diese zweite Karte zu sparen – dann aber ohne Bahncardnachlass? Haben Sie Kinder? Warum schaffen Sie sich nicht welche an? Ab drei Kinder mit Bahncard fahren geschiedene Väter günstiger vor 17 Uhr!“ Es war herrlich: Es gab so viele Tariftypen wie mögliche Kombinationen aus Familienstand, Alter, Herkunft, Zugart und Streckenführung. Obwohl man selten kürzer als eine Dreiviertelstunde bis zur Aushändigung der Fahrkarte brauchte, boten die Bahner ihrem Kunden niemals einen Stuhl an. Und das war gut so.
Auch bei der katholischen Beichte kniet der Sünder und lümmelt nicht in weichen Sesseln. Hier wie dort wird vollkommene Öffnung und Preisgabe verlangt. Hier wird mit der Absolution belohnt, dort mit der garantiert günstigsten Fahrkartenvariante, die mit so profanen Mitteln wie menschlicher Logik, dem Internet oder einem Blick auf die Preisliste niemals wäre gefunden worden.
Daran denkt Mehdorn, der Grausame, nicht. Und auch nicht an die Alten in unserer Gesellschaft – die einst nicht nur Deutschland, das Wirtschaftswunder, sondern auch die Bahn aufgebaut haben. Von Deutschland und der Wirtschaft längst vergessen, konnten einsame Rentner immer noch zur Bahn gehen.
Hier gab es immer einen, der stundenlang für sie Zeit hatte, fragten sie nur nach der Verbindung von „Mühlsen-St. Michels im Erzgebirge nach Bad Salzdetfurth im Sauerland aber nicht über Hannover, weil dort immer so viele umsteigen, und nicht mit Sackbahnhöfen auf der Strecke, weil mir beim Rückwärtsfahren immer schlecht wird, vor 17 Uhr an einem Wochentag in sechs Monaten, aber in einem Zug, in dem garantiert kein Fenster offen steht. Mit Bahncard.“
All dies hat nun ein Ende: Schnell und anonym werden wir zukünftig unsere Tickets bekommen, weil sich niemand mehr für unsere elende Existenz interessiert. Unsere Alten werden allein bleiben, und unsere Jugend wird sprachlos werden. Still, grau und traurig wird dieses Land, indem nur Herr Mehdorn böse lächelt.
Fragen zu Schicksal?kolumne@taz.de
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