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reformen in der türkeiSchlachtruf: „Europa“!

Fassungslos starren europäische Politiker, Bürokraten und Journalisten auf die Türkei . Das Parlament in Ankara hat nicht nur in Windeseile die Todesstrafe abgeschafft und einen gesetzlichen Rahmen für Kurdisch-Unterricht und kurdisches Fernsehen geschaffen. Darüber hinaus wurden auch noch umfassende demokratische Rechte eingeführt. Die größte türkische Zeitung, Hürriyet, titelte gestern ihren Leitartikel auf Kurdisch: „Biji Türkiye“ – „Es lebe die Türkei“.

Kommentarvon ÖMER ERZEREN

Bürgerliche Parteien in Europas Westen greifen faschistische und rassistische Motive auf, um Wählerstimmen zu kassieren – und im türkischen Osten wird die Todesstrafe abgeschafft. Dabei lag es durchaus nahe, einen anderen Weg zu gehen: Immerhin sitzt der ehemalige PKK-Führer Abdullah Öcalan in einem türkischen Gefängnis. Die Versuchung, mit einer „Kopf ab“-Propaganda in den Wahlkampf zu ziehen, war durchaus da. Doch die türkische Politik hat sich anders entschlossen: Die Todesstrafe wurde nicht etwa nach, sondern weit vor den Wahlen am 3. November abgeschafft.

Wer nun meint, die Reformen wären nur ein taktischer Schachzug, um auf dem EU-Gipfel im kommenden Dezember einen Beschluss in Richtung Beitrittsverhandlungen zu erreichen, täuscht sich gewaltig. Die verabschiedeten Gesetze waren keine Regierungsvorlage; die Abgeordneten wurden von der Bevölkerung regelrecht dazu geprügelt, mit „Ja“ zu stimmen. Denn „Europa“ ist in der Türkei zum innenpolitischen Schlachtruf mutiert. „Europa“ steht in der Türkei für das Programm der bürgerlichen Mitte: Wirtschaftswachstum, politischer Frieden, Ausgleich mit den Kurden und mit dem Islam – all das wird in einen neuen Republikanismus eingebunden.

Doch auch wenn die entsprechenden Gesetze verabschiedet sind – es wird gewaltige Widerstände geben. Die EU wird diese Kämpfe entscheidend beeinflussen. Hält sie Wort, muss sie auf dem Gipfel den Weg für Beitrittsverhandlungen ebnen. Bricht sie ihr Wort, wird sie türkischen Faschisten, islamistischen Extremisten und putschlüsternen Militärs in die Hände arbeiten.

Europa hat im 20. Jahrhundert eine höchst unheilvolle Rolle in der türkischen Geschichte gespielt. Anfang des 21. Jahrhunderts besteht nun die Chance, positiv zu wirken. Wer jedoch wie Kanzlerkandidat Stoiber meint, die Türkei habe keinen Platz in Europa, der spielt mit dem Feuer. Und Brände – das lehrt die historische Erfahrung – sind lokal nicht kontrollierbar. Sie greifen über. brennpunkt SEITE 3

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