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rassismus ost und westBernsdorf liegt nicht im Westen

Sitzen zwei Deutsche zusammen und reden über den Holocaust. Spätestens nach dem dritten Bier sind sie bei ihrem eigentlichen Thema angelangt, der Entlastung. Von nun an lautet eine der wichtigsten Fragen: Wie lange haben wir noch an der Schuld zu tragen? Dann die tröstliche Antwort: Auch Engländer, Franzosen und Israelis haben Dreck am Stecken. Dies war und ist ein beliebtes Gesellschaftsspiel, das Entspannung verschafft und allzu quälende Selbstzweifel lindert.

Kommentarvon EBERHARD SEIDEL

In diesen Tagen macht eine neue Spielvariante die Runde: Nicht mehr der Rechtsradikalismus ist die Herausforderung, die wirklich zählt. Nicht mehr die bedrohliche Situation, unter der Minderheiten in diesem Land in manchen Regionen leben müssen, steht im Vordergrund. Was jetzt vor allem bewegt, ist die vermeintliche Schieflage in der wechselseitigen Wahrnehmung zwischen Ost- und Westdeutschen, der Schmutz, der über die eingerissene Mauer hin- und hergeworfen wird.

Der Westen tue so, als sei der Rassismus eine Erfindung der neuen Bundesländer, lautet ein Vorwurf. Und ganz Eifrige, wie der sächsische Innenminister, vertreten gar die These, die Neonazis seines Bundeslandes seien nur von westlichen Faschisten verführte Jungs.

Nun, ganz von der Hand zu weisen sind die Vorwürfe ja nicht. Tatsächlich ignorierte die politische Elite der alten BRD den Rechtsradikalismus vor 1990, um die ostdeutsche Variante dann als Folge des verordneten Antifaschismus der untergegangenen DDR zu denunzieren.

Damals wie heute gilt: Die wechselseitigen Schuldzuweisungen sind so durchsichtig wie dumm. In beiden Fällen soll von der eigenen Verantwortung abgelenkt werden. Gesamtgesellschaftlich besteht sie darin, den Rassismus allgemein zu ächten. Aber darüber hinaus gibt es auch regionale und lokale Verantwortungen.

Wenn, wie im sächsischen Bernsdorf geschehen, alle dort lebenden Vietnamesen die Stadt fluchtartig verlassen, weil einer der Ihren einen Deutschen getötet hat, sind Fragen an Bernsdorf erlaubt: Ist die Situation wirklich so dramatisch, dass Minderheiten ein Pogrom oder Racheakte fürchten müssen? Sind die Neonazis wirklich so stark, dass staatlicher Schutz unmöglich erscheint? Fragen wie diese haben nichts mit westlichen Ressentiments gegenüber dem Osten zu tun. Und sie wären mit gleicher Schärfe zu stellen, wenn Bernsdorf in Bayern läge. Liegt es aber nicht.

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