"Wir müssen eine Bundespartei werden"

■ Die Grünen sind nach wie vor ein Parteienbund aus Landesgliederungen, klagt der scheidende Sprecher Jürgen Trittin vor dem Parteitag der Grünen. Anders als die Realos habe die Parteilinke begriffen, d

taz: Wann haben Sie zum ersten Mal von Ihrer Hamburger Parteifreundin Antje Radcke gehört, die auf dem Parteitag voraussichtlich zu Ihrer Nachfolgerin gewählt wird?

Jürgen Trittin: Ich kenne sie seit Jahren.

Halten Sie es für sinnvoll, wenn das Amt einer Parteivorsitzenden ein Posten ist, der eher den Anfang als die Krönung einer Karriere markiert?

Antje Radcke hat die Hamburger Grünen erfolgreich in den Wahlkampf 97 und an die Regierung geführt. Da kann man nicht vom Anfang einer politischen Karriere sprechen.

Damit sprechen Sie ein vernichtendes Urteil über Frau Radcke. Wenn ihr Posten so wichtig ist, wie Sie sagen, woran liegt es dann, daß sie weithin so völlig unbekannt geblieben ist?

Junge, intelligente Frauen müssen nicht bekannt sein, um gute Arbeit zu leisten, und außerdem braucht Politik auch Erneuerung.

Teilen Sie die Ansicht, daß die Möglichkeit einer weiteren Entmachtung der Partei gegenüber Regierungsapparat und Fraktion besteht, wenn bundespolitisch unerfahrene Leute an der Spitze der Partei stehen?

Die Gefahr besteht, wenn die Vernetzung nicht funktioniert. Deswegen bedarf es der Strukturreform, die zu einer engeren Verknüpfung der politischen Ebenen führt. Wir haben 1994 damit begonnen, indem wir auf informeller Ebene den Wohlfahrtsausschuß eingeführt haben, also regelmäßige Treffen zwischen Partei-und Fraktionsvorstand. Das hat sich bewährt. Ich verstehe ja, daß manche in der etablierten Öffentlichkeit gerne wollen, daß Bündnis 90/Die Grünen absolut genauso strukturiert sind wie andere Parteien auch. Es gibt aber seit der Gründungsphase dazu eine gewisse Distanz.

Sie sprechen von der etablierten Öffentlichkeit. Meinen Sie damit...

... da meine ich auch die taz.

Meinen Sie auch ihren Kabinettskollegen Joschka Fischer, der sich ja genau das wünscht?

Es gibt in der Partei verschiedene Vorstellungen. Der Bundesvorstand hat einen Vorschlag vorgelegt, der versucht, einen Kompromiß zu finden. Dieser Vorschlag ist auch von den damaligen Fraktionssprechern Kerstin Müller und Joschka Fischer so getragen worden.

Warum ist eine strukturelle Parteireform bei den Bündnisgrünen eigentlich aus Ihrer Sicht überhaupt nötig?

Sie ist nötig, weil die Partei Bündnis 90/Die Grünen endlich eine Bundespartei werden muß. Sie ist nach wie vor in erster Linie ein Parteienbund. Eine Identität als bundespolitische Kraft gewinnt sie fast ausschließlich über die Zusammensetzung der Fraktion. Das hat sich im Wahlkampf als eklatanter Wettbewerbsnachteil und nicht als Stärke erwiesen.

Voraussichtlich wird ja die wichtigste Neuerung die Einrichtung eines Parteirates sein...

... wenn es dafür eine Zweidrittelmehrheit gibt. Es gibt Kräfte in der Partei, die aus ganz unterschiedlichen Gründen meinen, es sei besser, wenn alles bliebe, wie es ist. Die einen können sich nicht von der Vorstellung verabschieden, sich im wesentlichen über die Landesebene zu definieren. Das ist der basisgrüne Ansatz. Bei anderen gibt es die stille Hoffnung, wenn man den Mißstand lange genug beibehält, ließe sich langfristig noch sehr viel mehr an Reformen erreichen als das, was jetzt beabsichtigt ist. Das kann zu einer Situation der Blockade führen, und das wäre sicherlich die schlechteste Lösung.

Worin sehen Sie denn die Hauptaufgabe des neuen Parteirats?

In schwierigen Situationen möglichst alle politisch Verantwortlichen, auch aus den Ländern, zusammenzubringen, damit sie Entscheidungen gemeinsam tragen. Das ist auch im Wohlfahrtsausschuß gelungen. Ich halte es aber aus Gründen der Demokratie für falsch, eine solche zentrale Schaltstelle auf informeller Ebene und ohne Legitimation durch die Basis einzurichten.

Ist das auch der Grund, weshalb Sie dafür plädieren, daß sich so viele Mitglieder des Parteirats wie möglich einer geheimen Wahl stellen und so wenige wie möglich als gesetzte Mitglieder dem Gremium angehören?

Gesetzte Mitglieder pflegen, das Interesse des Gremiums zu vertreten, das sie entsendet. Gewählte auch.

Besteht da nicht die Gefahr, daß einige Leute, die eigentlich dem Parteirat angehören müßten, gar nicht erst zur Wahl antreten, weil sie Angst vor einer Niederlage haben?

In anderen Parteien gibt es ja ein ähnliches Verfahren. Nach meinem Eindruck ist bei Bündnis 90/Die Grünen der demokratische Mut zumindest nicht geringer als dort.

Im Rahmen der Debatte um die Strukturreform und im Zuge der Kandidatensuche für den Bundesvorstand wird auch darüber diskutiert, ob die Trennung von Amt und Mandat denn überhaupt noch sinnvoll ist. Sie gelten als Befürworter dieses Satzungsgrundsatzes...

... das ist falsch. Ich habe 1994 dafür plädiert, diese Regelung für die Beisitzer aufzuheben. 80 Prozent der Partei waren anderer Meinung. Ich habe auch keine Indizien dafür, daß sich das geändert hat, insofern bin ich in dieser Frage Realist. Es ist auch völlig falsch, dieses Thema als Glaubensfrage zu behandeln. Das muß man praktisch sehen. Die Aufhebung der Trennung von Amt und Mandat geht nicht auf der Basis einer Bundesgeschäftsstelle mit 22 Stellen.

Die Ausstattung soll doch jetzt verbessert werden.

In dem Umfang, der dafür nötig wäre, läßt sie sich nicht verbessern. Unter den Voraussetzungen, unter denen bei den Grünen gearbeitet wird, müssen sich Vorstandssprecher mit ganzer Kraft der Partei widmen können.

Sie halten die Trennung von Amt und Mandat also aus Gründen des effizienten Parteimanagements für notwendig und nicht aus demokratietheoretischen Erwägungen heraus?

Ich halte nichts davon, diese Diskussion ideologisch zu führen. So lange alle Ämter durch Wahlen bestimmt werden, sehe ich demokratietheoretisch kein Problem.

Nun gibt es ja neben der Trennung von Amt und Mandat in Ihrer Partei auch noch andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, etwa die Strömungsquote. Machen Sie es sich nicht unnötig schwer?

Auch in anderen Parteien und sogar in Verbänden ruckeln sich solche Dinge über Interessenverbindungen von Gleichgesinnten. Gerade die vielgeschmähten Kooperationen zwischen den Strömungen und die Suche nach Kompromissen haben übrigens dazu geführt, daß es am Ende in der Sache eine sehr große Einigkeit von Bündnis 90/Die Grünen bei den Koalitionsverhandlungen gegeben hat.

Gelegentlich entsteht der Eindruck, daß es heute gar keine Unterschiede grundsätzlicher Art zwischen den Strömungen gibt. Was macht Sie denn in Ihren eigenen Augen zu einem Vertreter der Parteilinken und nicht zu einem des realpolitischen Flügels?

Die zentralen Unterschiede bestehen nach meiner Einschätzung in zwei Punkten. Zum einen in der Einschätzung dessen, was Politik überhaupt ist. Ist Politik bloßer Wettbewerb um das bessere politische Konzept, in dem sich am Ende die bessere Sache durchsetzt? Diese Sichtweise entnehme ich so manchen Realo-Papieren. Oder hat Politik etwas zu tun mit Interessen, mit politischen, mit sozialen, mit Machtinteressen? Da glaube ich, daß in Wirklichkeit die Linke sehr viel realistischer ist, weil sie nach wie vor davon ausgeht, daß Politik von Interessen geleitet ist und nicht konzeptioneller Wettstreit. Der zweite Unterschied hängt damit zusammen. Die Linke geht nach wie vor davon aus, daß es so etwas gibt wie politische Gegner und nicht nur Konkurrenten. Politik lebt also unserer Ansicht nach auch von Konfrontation. Sie ist die Voraussetzung für den Kompromiß.

Haben Sie den Eindruck, daß die Bedeutung der Strömungen für die heute 50jährigen in der Partei eine andere ist als für diejenigen, die jünger als 35 sind?

Wenn ich manche Debatten bei der Grünen Jugend anschaue, dann scheint das alles ganz hochaktuell zu sein. Allerdings ist heute wahrer als vielleicht je zuvor, daß keine Strömung für sich in der Partei mehrheitsfähig ist. Mehrheiten werden immer durch die Integration der politischen Mitte in der Partei gefunden, also auch durch Kooperation zwischen den Strömungen. Außerdem ist in der Tat ein Problem, daß mehr als die Hälfte der Mitglieder erst nach 1994 in die Partei eingetreten sind. Deshalb brauchen wir einen ganz umfassenden programmatischen Verständigungsprozeß. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Vorstands sein, die Debatte um ein Grundsatzprogramm zu führen.

Wenn Sie auf Ihre vier Jahre als Parteivorsitzender zurückblicken – worauf sind Sie stolz?

Ich finde, wir haben es gut hingekriegt, diese Partei inhaltlich und programmatisch auf die Situation vorzubereiten, jetzt dieses Land zu regieren.

Und was hätten Sie erreichen wollen, was Sie nicht geschafft haben?

Ich hätte mir natürlich ein noch besseres Wahlergebnis bei den Bundestagswahlen gewünscht. Interview: Bettina Gaus