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"Meine Heimat ist Europa"

■ Gesichter der Großstadt: Der seit 25 Jahren in Deutschland lebende Kemal Fazlagic aus Sarajevo sammelt mit rastloser Energie Hilfsgüter für seine Geburtsstadt

Wenn man ihn auf seine jetzigen Aktivitäten anspricht, sprudelt es aus ihm nur so heraus. Er ist kaum zu bremsen. Kemal Fazlagić, 1934 in Sarajevo geboren, ist ein Aktivist der Solidaritätsbewegung für Bosnien-Herzegowina. Im Februar 1969 kam er nach Deutschland, später nach Berlin, um mit seiner damaligen Frau ein Restaurant aufzumachen, kein jugoslawisches, betont er heute. Der Hotelkaufmann hat schon immer ein Herz für die Lyrik von Garcia Lorca und anderen spanischen Dichtern, auch deshalb mußte es ein spanisches Restaurant sein.

Damals hat er sich nicht träumen lassen, eines Tages für seine zerschossene Heimatstadt Medikamente, Kleidung oder auch Geld zu sammeln. Aber wo ist eigentlich die Heimat von Kemal, dessen Name auf eine alte muslimische Familie Sarajevos hinweist. Seine Antwort: „Europa, meine Heimat ist Europa.“

Seit dem ersten Tag des Krieges der serbisch dominierten jugoslawischen Bundesarmee gegen Kroatien 1991 ist er mit Hilfssammlungen aktiv. Der große Schock kam für ihn am 6. April 1992. An diesem Tag schossen serbische Nationalisten in Sarajevo eine moslemische Hochzeitsgesellschaft nieder.

Zerrissene Freundschaft

Bis zu diesem Tag war der Hoteldirektor, der den Serben das Haus, aus dem die Schüsse kamen, als Hauptquartier zur Verfügung gestellt hatte, sein Freund. Mehrfach war der Freund während der internationalen Tourismusbörsen in Berlin sein Gast. „Die Paranoia soll aufhören“, meint Kemal heute, fast den Tränen nahe. „Alle Menschen von Sarajevo haben gleiche Rechte.“ Die Aufspaltung der Gesellschaft in „Moslems“, „Kroaten“ und „Serben“ hält er für Wahnsinn.

Seit über zwei Jahren ist Kemal rastlos Tag und Nacht im Einsatz, sammelt bei Kirchengemeinden und Schulen Sachmittel. Dafür hat der exzellente Koch und aufmerksame Gastgeber sogar seine Arbeit aufgegeben und lebt praktisch von erspartem Geld und den Einkünften seiner Frau.

Mit einigen Freunden erhielt er 1992 über den Bürgermeister von Kleinmachnow und dessen Sozialstadtrat von der Bundeswehr Lagerräume, wo jetzt am Wochenende Kleidung und Lebensmittel abgegeben werden können. Bosnische Flüchtlinge sortieren das Ganze, tatkräftig unterstützt vom örtlichen Jugendtreff „Affenclub“, der schon mal in der völlig verrauchten Bude neben dem Kleiderlager ein Solidaritätskonzert organisiert.

Zuerst gingen die Hilfslieferungen in bosnische Flüchtlingslager nach Slowenien und Kroatien. Jetzt werden die Hilfsgüter per Lastwagen und Flugzeug in das eingeschlossene Mittelbosnien gebracht. Zum Teil sind sie auch über eingeschlossenen Gebieten abgeworfen worden.

Kemal, offizieller Vertreter des bosnischen Roten Kreuzes in Berlin-Brandenburg, ist einer der Motoren der Hilfsaktion „Keine Mauer durch Sarajevo“, die im Winter 1993/94 etwa 20.000 Lebensmittelpakete (etwa 1.000 Tonnen) gesammelt hat.

Man muß Zweifel haben, ob Kemal nachts überhaupt schläft, weil zu dieser Zeit zu Hause die Telefaxe und Telefongespräche eingehen. Am Morgen steht er dann mit weiteren Ideen im Büro der Aktion und hat gar nicht viel Zeit, weil er sofort zu irgendeiner Senatsverwaltung muß, um danach mit dem LKW Medikamente einzusammeln. Wie halten das nur seine Frau und die sechs Kinder aus?

Vielleicht steht die fast atemlose Rastlosigkeit in direktem Zusammenhang mit seiner Krankheit. Durch Krebs hat er die halbe Lunge verloren. Vielleicht bleibt ihm nicht mehr viel Zeit, Zeichen der Hoffnung zu setzen. Neueste Idee: Saatgut für die Menschen in Tuzla, Sarajevo und anderswo sammeln, damit sie sich wenigstens teilweise selbst versorgen können. In dem zerstörten Land will Kemal damit eine Hoffnung für den Frühling pflanzen.

Die Hilfsangebote deutscher Kartoffelzüchter stapeln sich inzwischen auf Kemals Schreibtisch. Es geht um Möhren, Salat, Kohl, Kartoffeln und und und. Die Berlinerinnen und Berliner sollen Gartenwerkzeuge wie Spaten, Harken oder Hacken zusteuern. Hoffentlich tun sie das: Spenden dafür auf das Konto von „Keine Mauer durch Sarajevo“ 0640023983 bei der Berliner Sparkasse. Jürgen Karwelat

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