problembezirke, ihre feste etc.: Wie Neukölln seine 48 Stunden feierte
Leben nach Gefühl
Der Spiegel hat vor Jahren mal einen Artikel über Neukölln geschrieben, unter dem der Bezirk bis heute leidet. Die Neuköllner aber massakrieren und vergewaltigen sich weder ständig gegenseitig vor den U-Bahn-Eingängen, noch sind sie alle Heroin-Dealer. Weil dieses Image jedoch festsitzt, gibt es Wochenenden wie „48 Stunden Neukölln“, wo Kulturgruppen ihre Lesungen, Konzerte, Theaterstücke und Filme alle auf einmal zeigen. Dann ist es still, bis zum nächsten Neukölln-Fest, der „Singenden, klingenden Sonnenallee“.
Dieses Jahr wurde die Karl-Marx-Straße in „Piazetta“ umbenannt. Eine Ausstellung zeigte Kopfschmuck und Filzkunst aus Australien, es gab eine „Frauen-Klassiknacht“, und zu jeder vollen Stunde lärmte das „Internationale Drehorgelfest“ los. Manches wollte provozieren, wie die Lesung „Geil in Neukölln“. Anderes stimmte nachdenklich, etwa das Stück „Vom Baum, der kein Papier werden wollte“ oder die „Märcheneurythmie“.
Wer dem kommerziellen Krach der Spielbuden auf der Karl-Marx-Straße entgehen wollte, musste in die Schillerpromenade gehen. Dort hatte das „Promenaden-Eck“ alles organisiert. Das Promenaden-Eck ist eine Kneipe, auf deren Theke Knochen „zum Mitnehmen“ herumliegen. An der Wand hängt der Satz „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, mach Pläne für die Zukunft“. Vor dem Eingang moderiert ein Mann mit Mikrofon ein Schokokuss-Wettessen. Vier Kinder sitzen jeweils vor einem Teller mit zehn Schokoküssen und müssen diese aufessen. Dazu läuft der „Big Brother“-Song „Leb so, wie du dich fühlst“. Die meisten Kinder sehen fix und fertig aus, machen aber trotzdem weiter. Lustig ist es, als eine Erwachsenenrunde eingelegt werden soll. Eine Frau mit Brille rennt weg. Als Kandidaten finden sich nur viele Männer mit Zopf und grauen Bärten. Freundlich brummelnd essen sie Schokoküsse und bestellen danach Biere. Die Kinder sind wieder dran. Das dauert ewig. Nach eineinhalb Stunden kündigt der Moderator erst das Achtelfinale an. Irgendwann ist Ismail der Gewinner. Er hat zwölf Schokoküsse verdrückt. Sein Freund meint: „Der hat vorher Döner gegessen. Wenn er gut drauf ist, schafft er 50.“
Das Dart-Turnier muss abgesagt werden, „weil ja alle, die sonst immer mitmachen, hinter den Wurstbuden stehen“, erklärt ein Mann mit Zahnlücke. Es geht weiter mit dem „Straßenmusik-Wettbewerb“. Hier winken lustige Preise: 999 Mark für den ersten, 666 Mark für den zweiten, 333 Mark für den dritten Platz. Der Applaus entscheidet. Eine Gruppe mit Akkordeons und Ballonmützen nervt schon vor ihrem Auftritt durch esoterisches Tanzen.
Man ist froh, als der schwerhörige Peter mit seinen Mundharmonikas auf die Bühne kommt. Danach ist André an der Reihe. Er sieht sympathisch nach osteuropäischem Intellektuellen aus und spielt klassische Geige. Das Publikum verabschiedet ihn mit „Bravo, Juri!“. Die blonde Dizzy singt ein trauriges, selbstkomponiertes Lied auf der Gitarre „für Horst, der auf dem Motorrad verunglückt ist“. Den ersten Preis macht Christoph, weil er Country spielt. Zum Schluss singen alle zusammen „Let It Be“. Eltern schicken ihre Kinder zum Zigarettenholen und klatschen mit. Das Karussell fährt zehn Minuten kostenlos. Es hat die Form eines sehr abgenagten Apfelbutzens, um den sich zwei Würmer drehen. In denen sitzen die Kinder. KIRSTEN KÜPPERS
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