pest in indien und köln: Schwarzer Tod und weiße Weste
Ratten haben keine gute Lobby. Alle Jahre wieder, wenn irgendwo in der Welt die Pest ausbricht, werden sie zu Boten des Todes. So war es auch, als 1994 im indischen Surat die Pest ausbrach. Mehr als 600.000 Menschen flohen damals voller Panik aus der Stadt; die Alten und Kranken blieben mit der Angst vor dem schwarzen Tod zurück. Nach Wochen wurde das Ausmaß der Seuche deutlich: Von den etwa 800 Infizierten starben hundert. Dabei ist jeder Tote einer zu viel. An der Pest muss heute – wenn sie rechtzeitig erkannt und mit Antibiotika behandelt wird – niemand mehr sterben. Sie ist keine medizinische, sondern eine gesellschaftspolitische Plage.
Kommentarvon WERNER BARTENS
Jetzt ist die Seuche in Indien erneut ausgebrochen und hat vier Todesopfer gefordert. Damals wie heute werden die Menschen nicht allein durch die Gefährlichkeit des Erregers dahingerafft. Katastrophale Hygiene und ein mangelhaftes Gesundheitswesen begünstigen den Ausbruch der Pest. Doch der wirkmächtige Mythos um die verheerende Krankheit kommt den zuständigen Behörden gelegen. Er lenkt ab von Versäumnissen der Gesundheitsfürsorge, den vor sich hin stinkenden Müllbergen und den nicht gezogenen Lehren aus der Vergangenheit.
Die von den mythisch überhöhten Nagern übertragene „Geißel der Menschheit“ bedroht jedoch nicht nur weniger entwickelte Regionen. In der mobilen Weltgesellschaft breiten sich Seuchen schneller aus denn je – und die Angst davor auch. Zwar wäre die Pest in Deutschland einfach zu behandeln – doch dazu muss sie erkannt werden. Deutsche Ärzte wissen von ihr nur noch aus Lehrbüchern. Mit dem Szenario einer Epidemie spielt denn auch ein RTL-Zweiteiler über einen Pest-Ausbruch in Köln, der in den nächsten Tagen ausgestrahlt wird. Hauptdarsteller: 150 Kanalratten. Die schlecht beleumundeten Nager sind das Bindeglied zwischen der historischen Bedrohung und zukünftigen Ängsten. Denn in heutigen Phantasmen ist die Ratte sowohl der seit dem Mittelalter gefürchtete Überbringer des schwarzen Todes wie auch das manipulierbare Labortier in den Händen der Biotechnologen. Der Todesbote von gestern wird zum Experimentierfeld für gentechnisch veränderte Krankheitserreger von morgen. Das bringt Fernsehmachern sichere Quote und den Verantwortlichen in Indien eine Entschuldigung: Der Mythos um den schwarzen Tod verschafft ihnen eine weiße Weste.
Werner Bartens ist Redakteur der „Badischen Zeitung“nachrichten SEITE 2
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen