orte des wissens: Wo Osteuropas Musik überlebt
In Oldenburg werden Aufnahmen und Partituren von Tonkünstler*innen aus Osteuropa gesammelt: Gegründet hat das Archiv die Komponistin Violeta Dinescu
Angefangen hat es mit den Autofahrten. Den Reisen der seit 1982 in Deutschland lebenden Pianistin, Komponistin und Musikprofessorin Violeta Dinescu in ihre rumänische Heimat. Da hat sie massenhaft Noten und andere Tonträger geholt, insbesondere seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Ceaușescu-Diktatur 1989, um zu retten, was zu retten war.
Denn erstens war unklar, wie es mit dem Land weitergehen, wie stark Sorgfalt und Interesse für aktuelle Musik noch sein würden. Zweitens existierte in Rumänien damals, anders als in Deutschland, kein Pflicht-Ablieferungssystem, in dessen Zuge ein Exemplar jeder Publikation an die Nationalbibliothek geht und dauerhaft dokumentiert ist. Noten und Kompositionen drohten in Rumänien so nach Erscheinen und Verkauf der ersten Auflage zu verschwinden und fürs kulturelle Gedächtnis verloren zu gehen. Das wollte Violeta Dinescu verhindern. Sie holte Partituren, Tonaufnahmen, Zeitschriften und Konzertprogramme auch aus dem Archiv des rumänischen Komponistenverbandes und brachte sie außer Landes.
Zusammengetragen und betreut werden sie seit 1996 – dem Antritt ihrer Professur an der Carl-von-Ossietzky-Uni Oldenburg – im dortigen Archiv für die Musik Osteuropas. Dinescu nutzte Status und Gelegenheit, um das Gesammelte professionell zu archivieren. So entstand ein in Westeuropa einzigartiges Konvolut rumänischer Musik des 20. Jahrhunderts.
1.500 Medien umfasst der Präsenzbestand des Archivs inzwischen, angereichert um musikwissenschaftliche Literatur. Seit Dinescus Ruhestand 2021 wird es betreut vom Fachreferenten Paul Tillmann Haas, der es im laufenden Betrieb und dem regulären Budget mit verwaltet. Fast alle veröffentlichten Werke des 1955 verstorbenen George Enescu finden sich dort in Partituren und Tonaufnahmen, dazu etliche Werke hierzulande unbekannterer KomponistInnen des 20. Jahrhunderts wie Anatol Vieru, Pascal Bentoiu, Stefan Niculescu, Tiberiu Olah, Myriam Marbe und Aurel Stroe.
Dass es kein rein rumänisches Archiv geworden ist, liegt daran, dass später der Nachlass des 2008 verstorbenen Musikwissenschaftlers und Redakteurs Peter Gojowy dazukam. Er hatte 1996 über die Musik der damaligen Sowjetunion promoviert, außerdem Material über polnische Musik gesammelt.
Am spannendsten, sagt Fachreferent Haas, seien Schriftwechsel aus der Sowjetunion nach Deutschland und zurück, die sowjetischen in teils verklausulierter Sprache, um die Zensur zu unterlaufen. „Da finden sich Briefwechsel unter anderem mit Edisson Denissow, Sofia Gubaidulina, Mauricio Kagel, Krzysztof Meyer – also mit etlichen Größen des Musikbetriebs hinter dem damaligen Eisernen Vorhang“, sagt Haas.
Dass diese Dokumente – wie etliches andere aus dem Archiv – mangels Personals noch nicht umfassend katalogisiert und für Forschende zugänglich sind, schmerzt ihn persönlich. Von Digitalisierung ganz zu schweigen, „aber hier gibt es auch urheberrechtliche Hürden, denn einige der VerfasserInnen leben noch, andere sind noch nicht lange verstorben“, sagt Haas.
Paul Tillmann Haas, Fachreferent Bibliotheks- und Informationssystem
Derweil bringt Violeta Dienscu, die auch Symposien und eine Schriftenreihe zu den Sammlungen osteuropäischer Musik weiterführt, immer mal wieder Material vorbei; ihre Sammelleidenschaft endete nicht mit dem Eintritt in den Ruhestand.
Gern würde Haas die Bestände auch um unterrepräsentierte Regionen wie Tschechien, die Slowakei, die Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens erweitern. Gelegentlich kauft er auch Dinge an. Aber ein ganz Osteuropa gleichberechtigt abdeckendes Archiv herzustellen – „das ist nicht zu schaffen.“ Petra Schellen
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