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orte des wissensEpoche der Mitlebenden

Die Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte der Uni Flensburg beschäftigt sich auch mit Antiziganismus und der Aufarbeitung der Verbrechen gegen Sin­ti*z­ze und Rom*­nja.

Schon seit 1992 untersucht die Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History (frzph) der Universität Flensburg die „Epoche der Mitlebenden“ in Schleswig-Holstein. Doch allmählich verschiebt sich, was der Begriff „Zeitgeschichte“ meint: „Da stellt sich die Frage, ob die Zeit des Nationalsozialismus noch dazugehört. Wir sagen Ja“, sagt Marc Buggeln, seit Juli Direktor der in Schleswig ansässigen Forschungsstelle.

Dennoch liege der wissenschaftliche Fokus zunehmend auf der Geschichte des Landes und der Bundesrepublik ab 1945. „Unsere Forschung bezieht sich auf die Region Schleswig-Holstein, aber immer eingebettet in internationale Kontexte und in regionale Vergleiche“, sagt Buggeln.

Der Teilbereich Public History beschäftigt sich dabei mit der Vermittlung von Geschichte, wie mit ihr umgegangen wird und welche Relevanz sie für die Gesellschaft hat. „Unsere Arbeit hat natürlich eine landesgeschichtliche Funktion. Der Vorteil in der Begrenzung ist, dass man kleinteiliger vorgehen und mikro- und alltagsgeschichtliche Ansätze auswählen kann“, sagt Buggeln.

Auf diese Weise könne man sich auch auf einzelne Archive beschränken und zu einem Thema wesentlich mehr Akten untersuchen. Genau deshalb eigne sich der Standort Schleswig besonders: Die Forschungsstelle ist nur 50 Meter vom Landesarchiv entfernt. „Dort werden die entscheidenden Akten für die Geschichte des Landes verwahrt. So ist auch der Aktenzugang für die For­sche­r:in­nen garantiert“, sagt Buggeln.

„Der Begriff Region kann aus verschiedenen Perspektiven definiert werden. Der Schwerpunkt der Forschungsstelle liegt auf dem Bundesland. Wenn es um die NS-Zeit geht, sind die Grenzen jedoch etwas flexibler“, sagt der Historiker. Unter seinem Vorgänger Uwe Danker war der Nationalsozialismus der klare Fokus des Instituts. Buggeln möchte den Schwerpunkt nun verschieben: „Ich bin mit einem Programm angetreten, das auch stärker Schleswig-Holstein in der Bundesrepublik erforschen will.“

Ein geplantes Forschungsprojekt soll sich zum Beispiel der „Bewegung der Vielfalt“ widmen, wie Buggeln es nennt, und untersuchen, wie in der Region „Frauenbewegungen, Bewegungen von Schwulen und Lesben, von Migranten oder von Behinderten sich seit den 70ern konstituiert und gegenseitig beeinflusst haben“. Auch soll die regionale Gedenkstättenbewegung näher untersucht werden, aus der die Forschungsstelle ursprünglich hervorgegangen sei.

„Unsere Arbeit hat natürlich eine landesgeschichtliche Funktion“

Marc Buggeln, frzph Uni Flensburg

Ein drittes Thema ist die Geschichte des Rechtsextremismus. „Dadurch, dass die Reichsregierung in Flensburg war und mit ihr viele Mitglieder der SS und Reichsführung, sind auch einige in der Region geblieben und haben teilweise tragende Rollen in der Frühgeschichte des schleswig-holsteinischen Rechtsextremismus gespielt“, sagt Buggeln. Auch habe es immer wieder rechtsextreme Bewegungen mit Relevanz für die gesamte Szene der Bundesrepublik gegeben. „Nicht zu vergessen die Brandanschläge etwa in Mölln oder Lübeck“, betont Buggeln.

Derzeit ist die Forschungsstelle in Schleswig an einem Projekt mit überregionalem Bezug beteiligt: Der Antiziganismus-Beauftragte der Bundesrepublik hat das Institut mit der Entwicklung eines Konzepts für eine Kommission zur Aufarbeitung der an Sin­ti*z­ze und Rom*­nja begangenen Verbrechen betraut. Bis Ende September soll es vorliegen und im Oktober von den deutschen Verbänden der Sin­ti*z­ze und Rom*­nja besprochen werden. Denn zwar gehört die NS-Zeit bald vielleicht nicht mehr zur „Epoche der Mitlebenden“. Für die Angehörigen der Opfer des Nationalsozialismus ist das Unrecht jedoch noch lange nicht gesühnt. Marco Fründt

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