normalzeit: HELMUT HÖGE über Mütter
Der dritte Weg
Am Senefelder Platz im Bezirk Prenzlauer Berg hielt ein Audi mit süddeutschem Kennzeichen, und ein älteres Ehepaar stieg aus, das seinen Sohn besuchte, der dort kürzlich hingezogen war. Die dauergewellte Frau schaute sich missmutig, ängstlich um und mich an, der ich gerade an ihr vorbeiging. Plötzlich meinte ich, diesen Blick zu verstehen. Es war der Blick einer Mutter, die ihr ganzes, fast beendetes Leben damit zugebracht hatte, ihre Familie zu behüten, zu bekochen und zusammenzuhalten. Dabei hatte sie sich jedoch von allem Sozialen und Gesellschaftlichen Drumherum abgekoppelt. Die Welt war ihr zu einem gigantischen Gegner geworden – mit Schmutz, Gewalt, finsteren Ausländern, Drogen und was weiß ich. Der Blick, mit dem sie mich und den Senefelder Platz maß, war abschätzig und furchtbar. Man spürte, wie sie ihre Handtasche fester an sich drückte.
Das ganze Elend der Familiarität entdeckte ich darin. Denn indem alles außerhalb der Familie als feindlich begriffen wird, geraten zugleich der Sohn, die Tochter und der Ehemann außerhalb jeder Kritik: Sie mögen noch solche Schweine und Verbrecher sein – it’s my family, right or wrong! So gesehen ist die Familie nicht die Keimzelle der Gesellschaft, sondern ihre absolute Negation. Und die Mütter darin die Gralshüter dieser asozialen Veranstaltung.
Was kann man dagegen tun? Der Sozialismus hat die generelle Berufstätigkeit der Frauen forciert. Wegen seines Charakters als geschlossener Handelsstaat ließ er jedoch keine freiwilligen Aufbauhelfer ins Land und war daher auf die eigene Menschenzucht angewiesen. Dies wurde mit einem gigantischen Kita-, Schul- und Hochschulprogramm ermöglicht. So weit ich das sehe, haben mindestens die Waisenheime ganz passable Ergebnisse gebracht, jedenfalls bessere als im Westen, wo – zumindest bis in die Achtzigerjahre – vor allem unglückliche, subproletarische „Problemfälle“ produziert wurden. Im zu Recht familienfeindlichen Sozialismus wurde also die Erziehung vergesellschaftet, so wie man auch den heimischen Herd durch Kantinen ersetzen wollte. Dadurch, dass diese Einrichtungen jedoch von oben durchgesetzt wurden, erhielt die Familie neue Funktionen: als Rückzugsnische, als Privatsphäre, die der staatlich durchorganisierten Öffentlichkeit ausgleichend gegenüberstand.
Ein DDR-zwangskollektivierungsgeschädigter Kriminologe, Christian Pfeiffer, konnte deswegen im Westen die These aufstellen, dass der Neonazismus im Osten nebst allen sonstigen asozialen Verwerfungen seit der Wende ein Produkt der lieblosen DDR-Kita-Erziehung sei. Im Zusammenhang mit dem Kindestod im sächsischen Sebnitz hat er sie jetzt aktualisiert. Dahinter steht die Idee, dass professionelle Erzieher die liebevolle Vollzeitmutter nicht ersetzen können. Das Gegenstück zur sozialistischen Kindergärtnerin wäre demnach die aufopferungsvolle Mutter.
Vilem Flusser hat noch eine dritte Möglichkeit gesehen: die Gentechnologie! Mit ihr sind zum ersten Mal selbstreproduktive Werke möglich, mit ihr beginnt also das Zeitalter wirklicher Kunstwerke – und diese, wenn es denn Menschenkinder sind, können endlich jenseits von asozialer Mutterliebe und staatssozialistischen Erziehern groß gezogen werden – sagen wir: von LeiharbeiterInnen mit Herz.
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