normalzeit: HELMUT HÖGE über Biopolitik
Alle mal die Ohren anlegen!
Der Hartmann von Köpenick erzählte mir einmal, wie er seinen Kampfgeist entwickelte: Dreimal aus der Schule geflogen, zweimal aus der Lehre: „Ich hatte abstehende Ohren, die meine Eltern einfach nicht anlegen lassen wollten, und wurde deswegen in der Schule ständig angepöbelt.“ Dagegen hat er sich gewehrt und später sogar verschiedene Nahkampftechniken gelernt.Bei seinen Lehrern galt er jedoch als das schwarze Schaf – bis er eine Lehre begann und im Lehrlingswohnheim plötzlich der Stärkste war: „Ab da hatte ich meine Ruhe, von meinem Lohn habe ich mir dann auch meine Ohren operativ anlegen lassen.“ Das sind gleich zwei Biopolitiken von unten – und vom Feinsten.
Der Philosoph Sloterdijk sprach sich neulich dagegen noch einmal für eine Nachbesserung des Menschen von oben, mittels Gentechnik aus – unter der Überschrift: „Die Hasenscharte ist nicht gottgewollt“ oder so ähnlich. Ich musste dabei sofort an zwei linke Professoren denken: Brinkmann in Gießen und Habermas in Frankfurt. Beide haben eine Hasenscharte, was sie mir zusätzlich sympathisch machte. Sloterdijk ist dagegen ein langweiliger deutscher Denker, trotz seiner Bhagwan-Periode, denn weltweit gilt es doch, die Biopolitiken von unten zu forcieren. Das muss sich nicht auf Schönheitskorrekturen beschränken – jede bewusstseinsverändernde Droge ist bereits eine biopolitische Intervention. Und auch jeder Geschlechtsverkehr. Bis hin zu den sonstigen Beziehungsrangeleien und ihren körperlichen Reaktionsbildungen.
Sabine Vogel erzählte mir einmal: In der psychosomatischen Abteilung des Klinikums Steglitz würden die Männer alle an Magenkrankheiten und die Frauen an Neurodermitis leiden. Auch das ist eine Form von (geschlechtsspezifischer) Biopolitik.
Im März-Merkur, der jetzt in der Charlottenburger Mommsenstraße domiziliert ist, schreibt der ebenfalls neu in Berlin lehrende Politikforscher Herfried Münkler – ähnlich deutsch wie Sloterdijk – über die „privatisierten Kriege“ von heute. Er denkt dabei an die boomenden Söldner- und Sicherheitsfirmen, aber auch an die neuen Partisanen: Der Krieg sei nunmehr die Verlängerung der Ökonomie mit anderen Mitteln geworden – Münkler denkt dabei an all die „Warlords“ und ihre Kinderarmeen, die so lange kämpfen, bis die Wirtschaft ihres Territoriums ruiniert ist, dann geht es weiter mit den internationalen Hilfsgütern. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts werden die Kriege wieder entideologisiert gleichsam handwerklich betrieben: Man kann davon leben, so viel ist daran richtig. Statt Feldforschung zu betreiben, jongliert Münkler lieber mit Journalismen – da findet man immer Passendes.
So druckten z. B. die Le Monde diplomatique und der New Yorker gerade Reportagen über die „befreiten Gebiete“ in Kolumbien ab: Man meint, zwei völlig verschiedene Partisanenformationen vor sich zu haben. Münklers Weltsicht ignoriert das urbane Partisanentum von unten. Michel de Certeau hat es in seiner „Kunst des Handelns“ umrissen: Es geht darum, in den informatisierten und vernetzten Riesenstädten die herrschende Ökonomie gemäß der eigenen Interessen und Möglichkeiten „umzufrisieren“ – indem man wieder auf die uralten Tricks und Listen zurückgreift, die schon von Pflanzen und Tieren, Jägern und Hirten kultiviert wurden. Auch das ist eine Biopolitik von unten. Sich aufblähen wie ein Doktorfisch, maßgeschneidert anpassen wie ein Chamäleon . . .
Die WK-zwo-Partisanen frisierten gelegentlich erbeutete deutsche Waffen um. Jetzt haben sogar schon Mittelschicht-Teenager die ihnen einst von den Eltern zur Sexualkontakt-Hemmung verpassten Zahnklammern „umfrisiert“ – zum attraktivitätssteigernden Status–symbol.
Ich saß vor einiger Zeit mit zwei thailändischen Jugendlichen, Ey und Eg, im „Bella Italia“: Eys Klammer war kaputtgegangen, und ich sollte für die Reparatur zahlen, hatte jedoch nicht so viel Geld – mich aber stattdessen mit fotokopierter Fachliteratur eingedeckt, in der von diesen unsinnigen Zahnklammern abgeraten wurde. Wie mit Engelszungen redete ich auf Ey ein. Sie lächelte nur. Schließlich schaltete sich ihr Bruder ein: „Helmut, versteh doch, sie kann ohne Klammer nicht leben, ihre Zähne sind völlig in Ordnung!“ Ich verstand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen