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normalzeitHELMUT HÖGE über den Gezeitenwechsel

Ebbe und Flut

An der Weser bin ich in der Grundschule noch mit einer ganzen Katastrophenflut-Literatur bekannt gemacht worden. Und damit, dass man sich bei Sturmflut schweigend auf den Deich begibt – und über die tobenden Wassermassen blickt. Als mich die taz Jahrzehnte später als Katastrophentourist in das Oderbruch schickte, da war die Flut schon zurückgegangen. Über Maisfelder, auf denen es nach vergammeltem Fisch roch, ritten stattdessen weiß gekleidete Dorfschöne Seite an Seite mit fröhlichen Bundeswehrsoldaten – der untergehenden Sonne entgegen. „Das glaubt uns in Berlin keiner!“, seufzte meine Begleiterin Dorothee. Auch im Hotel zum Schwarzen Adler war bereits wieder Ebbe. Ein Zimmermädchen erzählte uns: „Erst war das ZDF bei uns einquartiert, dann RTL und Sat.1, dann kamen auch noch Reporter aus Holland, Dänemark und Italien … Hier war was los. Das können Sie sich nicht vorstellen!“

Aber wir bekamen immerhin eine Ahnung, nachdem ein alter LPG-Bauer sagte, dass wegen der vielen Spenden und Versicherungsgelder die „nicht nass gewordenen Leute“ die „abgesoffenen“ schon beneiden würden. Neben diesem privatkapitalistischen Boom gebe es auch noch jede Menge neue ABM von und für die Allgemeinheit. Er selbst habe davon profitiert. Seine erste ABM-Stelle habe er im Übrigen im Mai 1945 bekommen – von den Russen: „Da mussten wir die ganzen Leichen beseitigen – dafür gab’s dann was zu essen!“ Unsere damalige Katastrophentour endete in der Pommerschen Bibliothek von Stettin, wo zwanzig Schriftsteller aus Polen und Deutschland per Hand, aber hochsymbolisch ein (1) Buch herstellten, das für die nahezu untergegangene Bibliothek von Breslau bestimmt war.

Wie ich gerade vom Nebentisch höre, erwägt die taz angesichts der derzeitigen Flutkatastrophe – zwischen Prag, Dresden und Bitterfeld – eine Geldsammelaktion. Ähnlich, wie sie es seinerzeit mit der Waffensammelaktion für den Bürgerkrieg in El Salvador tat. Dorthin sowie nach Nicaragua gab es einen regelrechten Revolutionstourismus. Um den jetzigen Katastrophentourismus an die Elbe zu minimieren, haben die dortigen „Deichgrafen“ und „Flutmanager“ verfügt, dass alle „Zuschauer“ zum Arbeitseinsatz verdonnert werden dürfen. Zudem wurde das überschwemmte Land von der Polizei gesperrt, aber zwischen den Kontrollstellen gibt es große Lücken und außerdem auch schon wieder das Grenzphänomen Menschenschmuggler, d. h. ortskundige Start-ups, die allzu Neugierige gegen ein nicht geringes Entgelt trocken in das Notstandsgebiet bringen – notfalls mit Booten. Die Korrespondenten der Kapital- und Staatsmedien können sich Hubschrauber leisten. Auch die Privat-Cessna-Dichte hat dort seit der Flut enorm zugenommen. Den Oderdammbruch hatte seinerzeit auch Gregor Gysi mit seiner Cessna angeflogen, während ein befreundeter Hamburger Rechtsanwalt neben ihm saß und aus Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ vorlas. Von der Elbe hört man nun Widersprüchliches: Während die Dresdner nachgerade erschüttert zu sein scheinen, tanzen die Prager auf den Dächern. Ja, die jungen Tschechen feiern „Roofpartys“: zum einen, weil es dort oben trocken ist und man einen guten Überblick hat, und zum anderen, weil fast alle Touristen verschwunden sind und die Stadt mal nicht mehr so geleckt aussieht. Auch hätte es ja „viel schlimmer“ kommen können.

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